Antifa heißt vorbereitet sein. Österreich, was geht?

Diskussionsveranstaltung mit Julia (Antifa-Referat ÖH Wien)

Donnerstag, 6. Juni 2019, 19:30 Uhr, AZ Wuppertal, Markomannenstraße 3, Elberfeld

Als wir die Veranstaltung mit Julia geplant haben, war noch keine Rede vom „Ibiza-Video“ mit Heinz-Christian Strache. (Wir gehörten nicht zu jenen, die schon vorab informiert waren.) Ein Ende der rechten Regierung in Österreich aus ÖVP und FPÖ schien in weiter Ferne zu liegen. Mit unserem Gast aus Wien wollten wir über die Herausforderungen diskutieren, denen sich die Antifa ausgesetzt sieht, wenn Rechtsradikale nicht mehr nur indirekt Diskurse und politische Entscheidungen bestimmen, sondern Machtpositionen des Staates direkt besetzen. Am Ziel der Veranstaltung hat sich nichts geändert. Im Umfeld zunehmenden Drucks von rechts stellen sich durch das eher zufällige vorläufige Ende einer Regierung für antifaschistische Akteure schließlich keine ganz neuen Aufgaben. Im Gegenteil; Julia schrieb uns: „Die Situation für antifaschistische Arbeit ändert sich dadurch freilich wenig, es ist allerdings noch unberechenbarer geworden.“

Unberechenbar heißt auch, dass bei den aktuellen Entwicklungen im Nachbarland ein Ankündigungstext keine Halbwertzeit hat, die bis zum Abend der Veranstaltung reicht. Weder ist klar, wie die – nach den Rücktritten der FPÖ-Minister*innen und dem Mißtrauensvotum gegen Sebastian Kurz – installierte Interimsregierung agieren wird, noch sind bisher alle Aspekte des vorangegangenen Skandals bekannt. Es ist auch nicht abzusehen, wie erfolgreich die antisemitisch eingefärbte Selbstdarstellung der FPÖ als Opfer im Hinblick auf die Neuwahl im September sein wird. Die Ergebnisse der Europawahl in Österreich machen da wenig hoffnungsfroh.

Dagegen tritt es etwas in den Hintergrund, dass die bisherige Politik der ÖVP/FPÖ Regierung bis heute durch Sebastian Kurz hochgelobt wird. Das Profil der jetzt gescheiterten Regierung ist knapp beschrieben: Die CDU/CSU-Schwesterpartei ÖVP hatte sich im Ende 2017 die ökonomischen Schlüsselministerien geschnappt, die rechtsradikale FPÖ stellte hingegen mit Herbert Kickl den Innenminister, erhielt Zugriff auf das Verteidigungs- und Sozialministerium und auf das für den Umgang mit Geflüchteten zuständige Ressort. Anderthalb Jahre genügten, das Land damit erheblich zu verändern.

Beim Umgang mit Geflüchteten wurde nicht gezögert, lange von der FPÖ propagierte rechte Träume zu erfüllen und die Lebensbedingungen von Asylsuchenden und Migrant*innen in Österreich drastisch zu verschärfen. Quasi im Gegenzug war es der ÖVP möglich, eine von der Kapitalseite geforderte Stutzung von Arbeiter*innenrechten und soziale Kürzungen umzusetzen. Und spätestens mit der Razzia im österreichischen Verfassungsschutz Anfang 2018, bei der die dem Innenminister unterstehende Polizei 40 Gigabyte sensibler Daten mitnahm, wurde klar, dass in die Hand rechter Politiker*innen geratene Sicherheitsapparate eine elementare Gefahr darstellen.

Für österreichische Antifaschist*innen stellen sich in dieser Lage neue Anforderungen. Antifaschismus als Haltung und Handlung sind Konstanten, die historisch in bestimmten Situationen mal offensiv, dann wieder zunehmend defensiv gelebt und umgesetzt werden können. Antifa ist immer auch eine Suche nach der richtigen Reaktion auf die jeweilige Formierung der Faschisten. In Österreich wie in Deutschland können Antifaschist*innen in dieser Beziehung auf einen besonderen (und schmerzhaften) historischen Schatz an Erfahrungen zurückgreifen, dessen wichtigste Erkenntnis ist, dass es antifaschistischen Widerstand auch unter den schlimmsten Bedingungen immer gab.

Doch was sagt uns das 2019? Wie sollen wir heute reagieren? Welche Erfahrungen haben österreichische Genoss*innen unter dem Druck einer protofaschistischen Regierung gemacht? Lassen sich vorhandene Strukturen aufrechterhalten oder ist eine Reorganisation notwendig? Hätten vor der Nationalratswahl 2017 andere Strategien gewählt werden müssen? Und auf welche Bündnispartner kann die Antifa setzen, wenn die bürgerlichen Parteien eine gemeinsame Agenda mit Rechten umsetzen und der Widerstand der Zivilgesellschaft dagegen nur gering ausfällt? Für uns in Deutschland ergeben sich aus ihren Erfahrungen eigene Fragen: Inwieweit ist die Situation in Österreich und Deutschland eigentlich vergleichbar? Was können wir in einer Situation, in der (noch) keine offen rechte Partei mitregiert, von unseren Genoss*innen lernen? Und nicht zuletzt: Welche Unterstützung ist in einer derartigen Lage von außen notwendig? Was könnten wir von hier aus leisten?

Dass unsere Veranstaltung durch die Entwicklungen neue Aktualität gewonnen hat, freut uns natürlich auf ganz vielen Ebenen. Mit Julia vom Antifa-Referat der ÖH Wien wollen wir die aktuellen Fragen natürlich berücksichtigen, die grundsätzlichen strategischen Überlegungen dabei jedoch nicht aus den Augen verlieren. (Julia ist bei Twitter: Antifa-Prinzessin; @_schwarzeKatze)

Antifa heißt vorbereitet sein! Österreich, was geht?

Donnerstag, den 6. Juni im Autonomen Zentrum Wuppertal. Beginn 19:30 Uhr, Eintritt frei.

Eure Beteiligung an unserem Gespräch ist unbedingt erwünscht.
Ihr könnt bereits vorab Fragen an Julia stellen. Dafür haben wir eine E-Mail-Adresse eingerichtet. Fragen, die bis Donnerstagmorgen bei uns eingehen, können wir bei der Diskussion berücksichtigen.
Die E-Mail-Adresse lautet: oesterreich-was-geht@so-ko-wpt.org

Mit dieser Veranstaltung setzen wir nach einer Pause unsere Reihe „Politik in der Rechtskurve“ fort.

Reprise. Fortsetzung der Reihe.

Auftaktveranstaltung zu Österreich mit Julia aus Wien am 6. Juni 2019.

Nachdem wir die Veranstaltungsreihe „Politik in der Rechtskurve“ im Herbst 2017 vorläufig beendet hatten, ist viel passiert. Unsere Haupt-Intention bei den Veranstaltungen, bei denen wir über die Situation auf den Philippinen, in Frankreich, der Türkei und Deutschland vor der Bundestagswahl sprachen, war seinerzeit gewesen, die weltweiten Diskursverschiebungen und die unterschiedlichen Wirkungsweisen rechter Narrative zu verstehen und eine Basis für Interventionen zu finden, bevor sie sich in realen politischen Verhätnissen abbilden. Inzwischen hat sich der Fokus zwangsläufig verschoben.

Der Angriff des Front National in Frankreich zerschellte zwar an einer Neuformierung der neoliberalen Kräfte um Macron, dafür gab es Verfestigungen rechter Macht in jenen Ländern, die schon damals autoritär regiert wurden (Ungarn, Polen, Türkei, die Philippinen). Neue Machtzentren rechtsradikaler Politik sind dazu gekommen, bspw. in Italien oder in Österreich. Auch in Deutschland konnte sich mit der AfD eine rechtsradikale Partei inzwischen in allen Parlamenten etablieren und die gerade stattgefundene Europawahl zeigt, dass sie aus Überzeugung auch wiedergewählt wird.

Grund genug für uns, die Reihe in loser Folge mit einem veränderten Schwerpunkt fortzusetzen. Ging es uns damals um die Frage, wie die weitere Etablierung rechter Politik eventuell verhindert werden kann, muss es heute darum gehen, eigene Handlungsspielräume in protofaschistischen Umgebungen zu erkunden und die damals wenig erfolgreichen Strategien zu hinterfragen. Wir werden uns bei der Folgereihe also mit den Erfahrungen beschäftigen, die Antifaschist*innen machen müssen, wenn „es“ passiert und Rechte in die Zentren der Macht gelangen. Und wir wollen erfahren, wie antifaschistische Arbeit unter den veränderten Bedingungen weiter möglich ist.

Zum Auftakt beschäftigen wir uns mit Österreich.

In der Rechtskurve verunfallt

Zum (vorläufigen) Abschluss der Reihe „Politik in der Rechtskurve“

Zwei Wochen vor der Bundestagswahl konnten wir Regina Wamper vom Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung für unsere fünfte und vorerst letzte Veranstaltung der Reihe „Politik in der Rechtskurve“ gewinnen. Im Rahmen der lokalen Aktionstage zur „We‘ll come United“-Demonstration in Berlin richteten wir unseren Fokus nach den vorangegangen Diskussionen zu rechter Politik auf den Philippinen, in der Türkei und Frankreich auf die Diskursverschiebungen in Deutschland. Heute ist der Unfall in der Rechtskurve passiert, die Wahl gelaufen, mit der AfD sind rechtsextreme Einstellungen in Fraktionsstärke parlamentarisch vertreten und alle anderen Parteien versuchen rechten Diskursen hinterher zu laufen.

Erfreut stellen wir jedoch fest, dass ein Ergebnis dieses Rechtsrucks ein inzwischen gesteigertes Interesse ist, seit dem 24. September häufen sich Veranstaltungen zum Thema und die meisten sind gut besucht. Für uns ist das ein geeigneter Zeitpunkt, unsere Reihe vorerst zu beschließen, eine Fortsetzung im nächsten Jahr ist jedoch angedacht. Denn noch immer sind wir davon überzeugt, dass im transnationalen Maßstab „eine monokausale Betrachtung der politischen Entwicklung (…) nicht erfolgversprechend [ist].“ Erst das Herausarbeiten des Verbindenden von autoritär-caesaristischen und libertär-rechten, national-chauvinistischen oder klerikal-faschistischen Konzepten, die sich zu einem scharfen weltweitem Abbiegen nach Rechts summieren, lassen sich wirksame Gegenstrategien entwickeln.

Zur Veranstaltung „Flucht und Asyl: Diskurs kaputt?“ am 8.9.2017

Das Sprechen und Schreiben über Flucht und Geflüchtete hat sich seit dem „Sommer der Migration“ deutlich verändert. Sagbarkeitsräume sind verschoben, Tabus sind gebrochen, Problemsetzungen verdreht worden; was vor drei Jahren noch als politisch und moralisch verwerflich galt, wird mittlerweile mit „Sachzwängen“ begründet und als normal gesetzt. Diese Verschiebung ist nicht allein von AfD, Pegida und deren Kampfmedien durchgesetzt worden – sie spiegelt sich ebenso in der Berichterstattung und den Kommentarspalten deutscher Leitmedien. Regina Wamper hat zusammen mit Margarete Jäger die Tageszeitungen taz, FAZ und Süddeutsche Zeitung ein Jahr lang (von August 2015 bis Juni 2016) in Hinblick auf ihre Berichterstattung in Leitartikeln und Kommentaren zum Themenfeld Flucht, Asyl und Migration ausgewertet. (Die Studie steht als pdf-Download zur Verfügung).

Ausgangspunkt und Prämisse ihrer Diskursanalyse ist die Annahme, dass Medien nicht (nur) Vermittlungsinstanz von Wirklichkeit sind, diese also nicht (nur) abbilden, sondern dass sie Wirklichkeit selbst mitproduzieren: Diskurse, die Art wie über gesellschaftliche Probleme und politische Entwicklungen berichtet wird, wirken selbst wiederum auf gesellschaftliche Realität ein. Die untersuchten Leitmedien bilden dabei ein relativ breites Spektrum von öffentlichem Diskurs ab und beeinflussen ihrerseits Diskurse im Alltag und auch die Wahrnehmung gesellschaftlicher Probleme in der deutschen Mehrheitsbevölkerung. Die Analyse von Regina Wamper und Margarete Jäger bezieht sich zunächst auf den Fluchtdiskurs in deutschen Medien, die Verschiebungen in der gesellschaftlichen Problemwahrnehmung werden Untersuchungsgegenstand einer Folgestudie des DISS sein.

De-Legitimierung von Flucht: Wer ist noch „legitim Geflüchteter“?!

Die Aufteilung bzw. Unterteilung von Geflüchteten in „gute“ und „schlechte“ begann bereits unmittelbar nach der Entscheidung gegen eine Schließung der Grenzen im Spätsommer 2015 und bezog sich zunächst auf Flüchtlinge mit „guter“ versus „schlechter Bleibeperspektive“ – wobei eine „schlechte Bleibeperspektive“ vor allem diejenigen hatten, die aus den Westbalkanstaaten kamen und vorwiegend Roma und arm waren. zu dem Zeitpunkt wurde eine schnelle Ablehnung und Ausweisung der „schlechten“ noch mit der nun notwendigen schnellen Integration der „guten“ Flüchtlinge begründet, wobei das Narrativ implizierte, dass die notwendigen Integrationsressourcen nicht für alle zur Verfügung stünden. Dabei wurde selbst die ehrenamtlichen Flüchtlingshilfe als begrenzte Ressource aufgefasst. Die Forcierung von Abschiebungen wurde dadurch gleichsam zum humanitären Akt und zur Unterstützung der freiwilligen Flüchtlingsunterstützung durch die Bevölkerung.

In den Folgemonaten war allerdings zu beobachten, dass immer weniger Personen unter den Begriff „legitim Geflüchtete“ subsummiert wurden: Zunächst fielen die AfghanInnen heraus, und nachdem der Innenminister äußerte, es sei unverständlich, dass Menschen ein Land verließen, in welches die Bundesrepublik Deutschland Soldaten schicke, gingen die zuvor relativ hohen Schutzquoten für AfghanInnen tatsächlich zurück. Später wurden allgemein die zuvor noch als „Schutzsuchende“ Bezeichneten zu „illegalen Einwanderern“: Angela Merkel nutzte diesen Ausdruck im Kontext des EU-Türkei-Deals ab November/Dezember 2015 auch für diejenigen, die immer noch die griechischen Inseln erreichten. Die Trennung zwischen „guten“ und „schlechten“ Flüchtlingen erfolgte jetzt nicht mehr unter Bezug auf Herkunftsländer und (unterstellte) Fluchtgründe, sondern auch in Hinsicht auf den aktuellen Ort des Aufenthalts und den Zeitpunkt der Flucht. Alle, die sich ohne Visum entlang der Fluchtrouten aufhielten und alle, die noch nicht in Deutschland angekommen waren, waren nun zu „illegitimen Einwanderern“ geworden.

Auch die Benennung von Problemen verschob sich zunehmend: Die Berichterstattung wendete sich von Problemen ab, die Flüchtlinge aufgrund der Notwendigkeit und der Bedingungen ihrer Flucht haben. Stattdessen richtete sich die Aufmerksamkeit immer mehr auf die angeblichen oder tatsächlichen Probleme, die die meistens übertrieben dargestellte hohe Zahl der Geflüchteten für das Land mit sich bringt: Angefangen von Management-Problemen bei der Aufnahme und Unterbringung, knappen Ressourcen an Wohnraum oder Deutschkursen, bis hin zu einem diffusen Bedrohungsszenario durch eine „unkontrollierte Zuwanderung“. Als Bedrohungsszenario entwarfen manche JournalistInnen zu Recht die zunehmenden rassistischen Mobilisierungen, die sie jedoch als angeblich unausweichliche Folge der Migrationsbewegung oft wieder den gestiegenen Flüchtlingszahlen zuschrieben.

Aus „Schutz für Schutzsuchende“ wird „Schutz vor Schutzsuchenden“

Die Phrase von der „kippenden Stimmung“, womit das baldige Ende der zuvor noch ausgerufenen „Willkommenskultur“ gemeint war, wurde in allen untersuchten Medien spätestens ab Oktober 2015 wie ein Mantra wiederholt und die Prognose durch die ständige Wiederholung zunehmend unhinterfragbar. Unterstellt wurde dabei häufig, dass Migration zu Rassismus und mehr Migration zu mehr Rassismus führt – eine Behauptung, die empirisch nicht belegbar ist. Zugleich wurde die Hilfsbereitschaft vieler Menschen schon ab Ende September 2015 zunächst vereinzelt, dann immer häufiger als naiv abgewertet. In einer grotesken Ursache-Wirkungs-Verdrehung wurde die zuvor gefeierte „Willkommenskultur“ von einem FAZ-Autoren sogar verdächtigt, als „Pull-Faktor“ zu wirken, die Menschen mit Teddybären und selbstgebackenem Kuchen also erst nach Europa zu locken.

Während einerseits bis zum Ende des Jahres 2015 die Integration der Angekommenen problematisiert wurde, wobei noch immer auch die Bedürfnisse und Probleme der Geflüchteten argumentativ einbezogen wurden, richtete sich die mediale Kritik somit zunächst gegen die „naiven“ Helfer und Unterstützerinnen. Wenn Geflüchtete nicht durch die von ihnen produzierte Hilfsbereitschaft nach Europa „gelockt“ würden, ergäbe sich gar kein Anlass für „die Sorgen der Bürger“ und damit kein Anlass für Rassismus. Die damals sprunghaft zunehmenden Angriffe auf geplante und bewohnte Unterbringungen und die damit verbundenen Bedrohung der Geflüchteten wurden so unausgesprochen dem hilfsbereiten Teil der Gesellschaft in die Schuhe geschoben. Das von der AfD und „Pegida“ bis heute verwendete Narrativ der „Volksverräter“ findet in dieser perfiden Argumentation in den Diskursen zum Ende des Jahres 2015 einen seiner medialen Vorläufer.

Spätestens nach den sexistischen Übergriffen in der Silvesternacht 2015/2016 in Köln wurden Flüchtlinge dann selbst nicht mehr als Bedrohte, sondern ihrerseits als die Bedrohenden dargestellt. Aus „Schutz für Geflüchtete“ wurde „Schutz für Deutsche“, womit sich der Mainstream-Diskurs endgültig den Argumentationsmustern der AfD annäherte. Diese neuerliche Verschiebung fiel zeitlich mit hektischen politischen Maßnahmen zum Fernhalten, zur Entrechtung und schnellen Ausweisung der (nicht erwünschten) Flüchtlinge zusammen. Der EU-Türkei-Deal, die Asylpakete 1 und 2, die Beschleunigung von Abschiebungen wurden dementsprechend auch in der Presse angesichts „zu vieler Geflüchteter“ immer mehr zu notwendigen Sachzwängen erklärt.

Die absurde Propaganda von der „Lügenpresse“

Im Zuge dessen rückte zuvor auch für konservativ bürgerliche Kommentatoren noch Unformulierbares immer mehr in den Bereich von akzeptablen Forderungen: zeitlich unbegrenzter Sonder-Lagerzwang, keine Einschulung von Flüchtlingskindern, das Ertrinken-Lassen vor den Grenzen Europas oder das völkerrechtswidrige Refoulement (Zurückschieben) von Flüchtenden in Länder, in denen sie recht- und schutzlos sind. Heute ist all dies skandalöse aber kaum noch hinterfragte Realität. Bootsunglücke im Mittelmeer sind inzwischen europäischer Alltag, Rettungsorganisationen werden als kriminelle Organisation behandelt und Sklavenhandel und Vergewaltigungen oder Folter in libyschen „Auffangzentren“ führen nicht zum Ende der Kooperation mit der selbsternannten libyschen Küstenwache.

Als De Maiziére den EU-Türkei-Deal im April 2016 mit dem Satz „Auch wenn wir jetzt einige Wochen ein paar harte Bilder aushalten müssen, unser Ansatz ist richtig.“ kommentierte, hatte er Recht – nicht mit dem „Ansatz“, aber mit dem Gewöhnungseffekt. Die heute jetzt auch parlamentarisch vertretenen rassistischen und menschenverachtenden Aussagen und Forderungen der AfD und ihrer AnhängerInnen wurden durch die „Leitmedien“ bereits früh normalisiert und vorbereitet. Es ist ein absurder Vorgang, dass diese mediale Diskursverschiebung nach rechts hinter der Propaganda der AfD von einer angeblichen „Lügenpresse“ beinahe verschwindet. Der Zeitraum einer „flüchtlingsfreundlichen“ Berichterstattung, auf den sich diese Propaganda beruft, war kurz – schon im September 2015 sind viele „Leitmedien“ nach rechts abgebogen.

Freitag, 8.9., Alte Feuerwache: Kaputter Asyldiskurs

Unsere Veranstaltungsreihe zur „Politik in der Rechtskurve” war als Beitrag des so_ko_wpt im Jahr einer Bundestagswahl gemeint, bei der sehr wahrscheinlich erstmals seit Jahrzehnten eine immer offener rechtsradikale Partei in das Parlament einziehen wird. Zwei Wochen vor der Wahl beschließen wir zunächst diese Serie von Diskussionsveranstaltungen.

Nachdem wir uns zuvor den Aspekten rechter Politik- und Wirklichkeitskonzepte auf den Philippinen, in der Türkei und in Frankreich gewidmet haben, wollen wir uns am 8. September mit unserer Referentin Regina Wamper vom Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung (DISS) um die Hintergründe rechter Diskursverschiebungen in Deutschland kümmern. Eine Auswertung unserer Reihe, inklusive des bislang fehlenden Beitrags zur Veranstaltung mit Bernard Schmid zur Situation in Frankreich, folgt nach der Wahl im Laufe des Herbstes.

Eine Veranstaltung im Rahmen der Wuppertaler Aktionstage zu „WE’LL COME UNITED“.

Diskussion: Flucht und Asyl – Diskurs kaputt? Zur Verschiebung des asylpolitischen Diskurses seit 2015. Mit Regina Wamper am Freitag, den 8. September um 19:00 Uhr, Alte Feuerwache (Gathedrale), Gathe 6, Wuppertal-Elberfeld. (Achtung: in den ursprünglichen Ankündigung war als Veranstaltungsort das Café ADA angegeben, aus technischen Gründen musste die Diskussion „nach nebenan“ in die Alte Feuerwache verlegt werden.)

Wie konnte sich nach anfänglich begeisterter Berichterstattung über die „Willkommenskultur” ein wesentlich auch von der AfD getriebener Diskurs der Abschottung und Ablehnung durchsetzen? Regina Wamper beobachtete am „DISS“ im Rahmen ihrer Forschungsarbeit die öffentliche und mediale Rezeption der Ereignisse seit dem so genannten „Sommer der Migration” 2015

Seither hat sich in der Asyl-, Flüchtlings- und Migrationspolitik vieles geändert; nicht allein auf der gesetzlichen, sondern auch auf der diskursiven Ebene. Das Reden über Flucht und Migration und die entsprechenden Wahrnehmungsmuster haben sich, auch getrieben von gezielten Tabubrüchen und Interventionen durch die AfD, verschoben. Nach einer anfänglich begeisterten medialen Berichterstattung zu einer so genannten „Willkommenskultur“ rückten Berichte und Begrifflichkeiten schnell wieder davon ab. Schon im Dezember 2015, als Regina Wamper zuletzt als Referentin zu Besuch in Wuppertal war, war eine zunehmende „Krisenrhetorik“ feststellbar, wobei als Krise in der Ankunft vieler Flüchtlinge in Deutschland bezeichnet wurde, nicht der zunehmende Rassismus und die Angriffe auf sie. Inzwischen hat sich der öffentliche Diskurs fast vollständig gedreht.

Regina Wamper hat die diskursiven Verschiebungen über einen Zeitraum von einem Jahr (2015/2016) anhand verschiedener deutschsprachiger Leitmedien untersucht. Sie kommt zu einem bedrückenden Ergebnis: „Wir müssen feststellen, dass Aussagen, die noch vor fünf Jahren als extrem rechts oder rassistisch bewertet wurden, heute zum Sagbarkeitsfeld des mediopolitischen Diskurses gehören. Die neue Normalität bezüglich Flucht und Migration ist restriktiver als die alte und die alte war bereits restriktiv.“ Spätestens nach den sexistischen Übergriffen der Silvesternacht 2015/16 sei die Forderung nach Schutz für die Schutzsuchenden in Deutschland zurückgetreten hinter die Forderung nach „Schutz“ der deutschen Mehrheitsbevölkerung vor den Geflüchteten.

Wie konnte es geschehen, dass, angesichts und trotz einer sich parallel verstetigenden ehrenamtlichen Flüchtlingshilfe und eines – bis heute anhaltenden – beindruckenden Engagements für Geflüchtete aus der Zivilgesellschaft, klare antirassistische und menschenrechtliche Positionen derartig an den Rand gedrängt werden konnten? Wie konnte es so weit kommen, dass Abschiebungen in breiten Teilen der Bevölkerung mittlerweile ebenso als „normal“ hingenommen werden wie das massenhafte Sterben an den Grenzen Europas? Welche politischen, diskursiven und praktischen Gegenvorschläge und Strategien müssten von FlüchtlingsaktivistInnen und von antirassistischen Gruppen entwickelt werden? Wo gab und gibt es Interventionsmöglichkeiten für antirassistische Positionen? Und wie kann im Rahmen eines solch „kaputt gemachtenen“ Diskurses ein differenziertes Sprechen jenseits von Verwertungslogik und Integrationszumutungen möglich werden, das auch die Herausforderungen und Probleme, die mit einer (globalen) Migrationsgesellschaft verbunden sind, nicht ausblendet?

Über diese und andere Fragen möchten wir am 8.9.2017 mit Regina Wamper diskutieren. (Eintritt: Spende)

Freitag, 26.5. im ADA: Frankreich zwischen den Wahlen

Frankreich zwischen den Wahlen mit Bernard Schmid (Paris) am Freitag, den 26. Mai im ADA (oben)
Wiesenstraße 6, Wuppertal-Elberfeld, 20:00 Uhr. Eintritt: Spende

Am Freitag, den 26.5., setzen wir unsere Veranstaltungsreihe „Politik in der Rechtskurve“ mit einer Veranstaltung zur Situation in Frankreich zwischen den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen fort. Eingeladen haben wir Bernard Schmid (Paris).

Kaum eine europäische Wahl wurde 2017 so oft zu einer europäischen Schicksalswahl erklärt wie die französische Präsidentschaftswahl. Die deutsche Öffentlichkeit zitterte vor einem Wahlerfolg Marine Le Pens vom rechten Front National. Nachdem jedoch am 7. Mai der selbsterklärte Präsidentschaftskandidat Emmanuel Macron als Sieger der Wahl feststand, sind Politik und Börsen mit vernehmbarem Erleichterungsseufzer zum Normalbetrieb zurückgekehrt: unmittelbar nach den Gratulationen waren aus Berlin erste Forderungen nach weiteren neoliberalen „Reformen“ in Frankreich zu hören.

Dabei wurde vor dem zweiten Wahlgang vielfach betont, die Wahl Macrons würde lediglich „fünf Jahre“ Aufschub bedeuten. Wenn es keine merklichen Anderungen der Politik in Frankreich und innerhalb der EU gäbe, müsse man sich spätesten 2022 auf einen Wahlsieg des neofaschistischen Front National einstellen. Doch nicht erst die Ermahnungen aus Berlin lassen ahnen, dass an echten Änderungen auf bürgerlicher Seite kein Interesse besteht.

Die Zusammenstellung des ersten Kabinetts des neugewählten Präsidenten und seine Strategie für die im Juni bevorstehenden Wahlen zur Nationalversammlung deuten vielmehr auf einen Versuch hin, „notwendige Reformen“ mit einem vollkommmen auf seine Person zugeschnittenen, eher autokratischen System unter Auflösung bisheriger Parteien und des bisherigen Politikverständnisses anzustreben.

Wie reibungslos Macron seine angekündigten Reformen, zum Beispiel die aus Berlin geforderte „Flexibilisierung des Arbeitsmarkts“ wird umsetzen können, entscheidet sich nicht zuletzt bei den Parlamentswahlen. Bei diesen werden die gerade verteilten Karten neu gemischt, vor allem, weil Marine Le Pen – anders als ihre zwei größten Widersacher, Emmanuel Macron und Jean-Luc Mélenchon – über eine Parteibasis verfügt, die für Kandidaten-Aufstellung und Wahlkampf in den 577 Wahlkreisen benötigt wird.

Hinzu kommt: Auch die Wahl zur Nationalversammlung wird in einer Stichwahl entschieden, bei der aber (anders als zur Präsidentschaftswahl), auch mehr als zwei KandidatInnen zur Wahl stehen können (für die Teilnahme reicht ein Ergebnis von mehr als 12,5% der eingeschriebenen WählerInnen im ersten Wahlgang). Nachdem sich die Républicains wie auch die Parti socialiste anscheinend in Auflösung befinden, ist kaum vorhersehbar, wie die Stichwahl ausgehen wird. Die am 7. Mai ausgebliebene negative Überraschung könnte am 18. Juni also durchaus doch noch eintreten.

Frankreich wird so zum Schauplatz entscheidender Weichenstellungen in Europa, bei denen neofaschistische und zunehmend autokratische Politikvorstellungen um die Vormacht kämpfen. Doch in Frankreich gibt es durchaus auch eine Linke, die die nächsten fünf Jahre ebenfalls nutzen könnte, die Leerstellen eines zerfallenden Systems zu besetzen. Die traditionell tief gespaltene französische Linke müsste sich nach der Selbstversenkung der Parti socialiste dazu allerdings grundlegend neu aufstellen.

Das Wissen um die französische Linke ist nicht besonders groß in Deutschland. Kaum jemand weiß beispielsweise, für was Mélenchon steht, der hier zumeist als „radikal links“ bezeichnet wird, und am 23. April nur sehr knapp am Einzug in die Stichwahl scheiterte. Auch Bewegungen wie die letztes Jahr kurzzeitig für einige Furore sorgenden „Nuit Debout“-Platzbesetzungen finden in der hiesigen Linken häufig zu wenig Interesse – von den teils heftigen Widerständen gegen Polizeigewalt in vielen Banlieues und Vierteln ganz zu schweigen.

Zwischen den beiden wichtigen Wahlen haben wir Bernard Schmid nach Wuppertal eingeladen, um mit ihm über einige der vielen Fragen und die Gesamtsituation im Nachbarland zu reden. Bernard Schmid, Autor des Unrast-Verlages und Jurist, hat u.a. für antirassistische NGOs und die Gewerkschaft CGT gearbeitet. Er publiziert regelmäßig zu aktuellen politischen Entwicklungen in Frankreich. Am 26. Mai wird er eigens zu unserer Veranstaltung aus Paris anreisen.

Politik in der Rechtskurve III: Frankreich zwischen den Wahlen. Mit Bernard Schmid (Paris), Eintritt: Spende
Freitag, 26.5., 20 Uhr, Café ADA (oben), Wiesenstraße 6 in Wuppertal-Elberfeld.

In Zusammenarbeit mit Arbeit und Leben DGB/VHS NW

 


 

Dienstag, 2.5. im Stil Bruch: Die Unmöglichkeit des Notwendigen

LINKE wählen? Streitgespräch mit Bernhard Sander am Dienstag, 2. Mai im Stil Bruch
Otto-Böhne Platz, Wuppertal-Elberfeld, 20:00 Uhr. Freier Eintritt

Es gibt gute Gründe dafür, 2017 den antiparlamentarischen und Anti-Parteien-Reflex in der radikalen Linken zu hinterfragen. Zu auffällig ist die Diskrepanz zwischen dem verbreiteten Alarmismus wegen eines voraussichtlichen Einzugs der neorechten AfD in den nordrhein-westfälischen Landtag im Mai und in den Bundestag im September und der häufig propagierten Abwendung von Wahlen, Wahlkämpfen und Wahlergebnissen, die in Aufrufen und Publikationen nach wie vor eine radikal linke Haltung darstellen soll. Auch angesichts einer für viele Aspekte emanzipatorischer Politik gefährlichen Polarisierung der Gesellschaft und von nach rechts verschobenen Diskursen wird nur selten ernsthaft über Sinn und Unsinn einer Unterstützung der einzigen Partei in der BRD diskutiert, die bei aller berechtigten Kritik doch auch ein grundsätzliches antifaschistisches Selbstverständnis im Parlamentssystem repräsentiert. Während es den Anschein hat, dass die lange zersplitterte Rechte diesmal gemeinsam auf ihr neues Vorzeigemodell AfD setzt, wird auf linker Seite weiter Unvereinbarkeit gelebt. Die LINKE macht es den Linken jedoch auch nicht einfach, sie zu unterstützen.

Die Kritik an der Partei geht über eine – oft auch verkürzende – Kritik an einzelnen Personen wie Sara Wagenknecht oder Oskar Lafontaine hinaus. Ein ungebrochener nationaler Fokus bei ihren Vorstellungen von Sozial- und Wirtschaftspolitik, ein unhinterfragter Fetisch um den kapitalistischen Arbeitsbegriff oder ein fragwürdiges Solidaritätsgehabe einiger Gruppierungen in der Partei, die in einem unreflektiertem Antiimperialismus verharren, sind nur einige der Kritikpunkte. Hinzu kommen die Einzelpersonen, die bewusst eine missverständliche Kommunikationspolitik in Kauf nehmen, weil um AfD-WählerInnen geworben werden soll, oder jene Mitglieder und Funktionsträger der LINKEN, die sich nicht nur an Montagen besinnungslos auf jede Ansammlung „besorgter Menschen” stürzen – allen erkennbaren Querfronttendenzen zum Trotz. Und dann gibt es auch noch jenen Flügel, der in Kretschmann’scher Manier alles auf Regierungsbeteiligungen setzt und der bereit scheint, auch Prinzipien dafür über Bord zu werfen. Gerade das katastrophale Scheitern Syrizas in der griechischen Regierungsverantwortung, das sicher für die Rechtskurve der europäischen Politik mitverantwortlich ist, macht die Aussicht auf eine LINKE als kleiner Partner einer möglichen rot-rot-grünen Konstellation nicht gerade verlockend.

Dagegen steht u.a. die These, dass allein die Existenz einer Wahlalternative von links bislang das Erstarken einer rechten Protestpartei in Deutschland verhindert hat: Ohne die LINKE würde es eventuell auch in der BRD der Agenda 2010 einen „Front National” schon seit zehn Jahren geben. Gerne vergessen wird häufig auch, dass viele LINKE-ParlentarierInnen wichtige und aufklärerische Politik machen und Multiplikatoren für antifaschistische Positionen sind. So wären viele Kenntnisse über Regierungshandeln ohne beharrliche Anfragen auf parlamentarischer Ebene nie an die Öffentlichkeit gelangt und für von §129a oder 129b-Verfahren Betroffene gäbe es ohne die LINKE gar keine AnsprechpartnerInnen in den Parlamenten. Nicht zuletzt hat ein in Kooperation mit antifaschistischen Strukturen beharrliches Nachfragen zu den Vorgängen rund um den „NSU-Komplex” dazu geführt, dass das Thema bis heute auf der Tagesordnung steht. Vor dem Hintergrund, dass die Rechte ihrerseits Möglichkeiten der Parlamente beständig für Anti-Antifaarbeit nutzt und das nach den Wahlen in NRW und zum Bundestag voraussichtlich weiter ausdehnen kann, ist diese parlamentarische Präsenz sehr wichtig. Aus der Erfahrung einer sehr dürftigen lokalen Debatte über den Umgang mit der AfD ergibt sich dann jedoch auch eine Thematisierung des zukünftigen Umgangs mit Rechten in Parlamenten.

Wie also mit den bevorstehenden Landtags- und Bundestagswahlen umgehen? Und wie mit einer Partei die LINKE, die Linke beständig in Abwehrhaltungen versetzt? Gibt es die Situation vor, ein breites Bündnis gegen den Rechtsruck zu einer Notwendigkeit zu machen, speziell in einem Moment, in dem die bürgerliche Rechte inhaltlich stark auf neorechte Parteien zugeht wie in den Niederlanden oder Bayern? Doch wie unmöglich ist das Notwendige? Es gibt konkrete Fragen nach den Zielen der Partei, danach, was sie für AntifaschistInnen tun kann und was diese für die LINKE tun könnten oder sollten. Knapp zwei Wochen vor der Landtagswahl in NRW wollen wir in einem Streitgespräch u.a. diese Fragen mit dem Wuppertaler Stadtrat der LINKEN, Bernhard Sander diskutieren, der auch parteiintern als kritischer Kopf gilt, es andererseits aber auch radikalen Linken nicht immer leicht macht.

Donnerstag, 27.4. im ADA: Die Türkei nach dem Referendum

Die Türkei nach dem Referendum mit Ismail Küpeli am Donnerstag, den 27. April im ADA
Wiesenstraße 6, Wuppertal-Elberfeld, 20:00 Uhr. Eintritt: Spende

(Es gibt jetzt auch eine türkische Version als pdf-Datei: Ankündigung türkisch als pdf-Datei

The winner takes it all

Am Ostersonntag ist in der Türkei jene Entscheidung gefallen, die sowohl innen- als auch außenpolitisch seit langem im Zentrum der Entwicklungen in der Türkei stand. In einem Referendum haben sich angeblich 51% der Wählenden für die Einführung einer autoritären, durch parlamentarische oder juristische Instanzen nicht wirksam kontrollierten Präsidialdemokratie entschieden. Das knappe Ergebnis wird jedoch von Manipulationsvorwürfen überschattet – unter anderem wurden vor allem im (kurdischen) Südosten der Türkei kurzfristig mindestens 1,5 Millionen Wahlzettel akzeptiert, die nicht offiziell validiert waren. Recep Tayyip Erdogan hat jedoch schon am Wahlabend keinen Zweifel daran gelassen, dass Einwände gegen das Referendum nicht zugelassen werden. Vielmehr wertet seine Partei AKP das angebliche Votum als eine nachträgliche Legitimation autoritärer Politik, des Kriegs in den kurdischen Gebieten und der Massenentlassungen und -verhaftungen. Es ist zu befürchten, dass im Verlauf der bis 2019 geplanten Einführung der neuen Präsidialmacht weitere Schritte zu einer offenen Diktatur gemacht werden; am Tag nach dem Referendum wurde zunächst erneut der Ausnahmezustand  in der Türkei verlängert. Wie der Weg in die Diktatur aussehen wird, hängt nicht zuletzt von der Reaktion jener Hälfte der Bevölkerung ab, die am 16.4. mit „Nein“ stimmte – unmittelbar nach der Verkündung des Ergebnisses haben in größeren türkischen Städten tausende Menschen auf der Straße gegen die Wertung der Wahl protestiert. Ein breiter Widerstand scheint jedoch bereits weitgehend unmöglich, zumal die größte Oppositionspartei, die republikanische CHP, regelmäßig zwischen Kooperation und Widerspruch pendelt.

Erwachende Ressentiments

Der sehr verbissene Wahlkampf um ein „Evet“ oder „Hayir“ hat aber zunehmend auch in Deutschland Spuren hinterlassen, wo etwa 1,4 der 3,5 Millionen Menschen türkischer Abstammung am 16.4. wahlberechtigt waren. Bespitzelungen durch den türkischen Geheimdienst „MIT“ und Einreiseverbote in die Türkei sowie aus Ankara offen befeuerte Denunziationen, Boykottaufrufe oder Gewaltandrohungen haben den Autoritarismus tief in die türkisch/kurdischen Communities deutscher Städte und in Belegschaften deutscher Betriebe getragen. Von der deutschen Mehrheitsgesellschaft eher unbemerkt wurden viele „Nein“-WählerInnen in Furcht versetzt – wenn nicht um sich, dann doch um Freunde und Angehörige in der Türkei. Eine niedrige Wahlbeteiligung von nur 46% bei den hier lebenden Türkinnen und Türken und mehr als 60% der abgegebenen Stimmen für die Änderung der Verfassung in der Türkei waren eine Folge. Dieses Ergebnis wiederum hat in Deutschland viele Ressentiments auf den Plan gerufen, die in den letzten Jahren verblasst schienen. Oft war die Rede davon, „die Mehrheit der Türken“ in Deutschland habe sich für Erdogans Pläne entschieden, was angesichts der Zahl der Wahlberechtigten und der Wahlbeteiligung nicht zutrifft, aber dennoch zur Grundlage von zum Teil absurden Forderungen gemacht wird.

Diskussion mit Ismail Küpeli

Zehn Tage nach dem Referendum wollen wir bei unserer Veranstaltung im ADA darüber diskutieren, wie es in der Türkei unter der Alleinherrschaft eines Präsidenten weitergehen kann und welche Möglichkeiten der Opposition noch verbleiben. Ebenso wichtig ist uns auch eine Diskussion zu den Verwerfungen in der türkisch-stämmigen Community in Deutschland, die noch lange nach dem Referendum fortwirken werden, und darüber, wieso dem „langen Arm Ankaras“ in Deutschland nicht genug entgegengesetzt wurde und wird.

Mit Ismail Küpeli haben wir einen der profiliertesten Publizisten zur türkischen Politik zu Gast, der das Ergebnis des Referendums für uns einordnen soll. Ismail Küpeli ist jedoch nicht nur ein aufmerksamer Beobachter und Berichterstatter zur türkischen Politik, er hat zuletzt auch selber unliebsame Erfahrungen mit regierungsnahen türkischen Pressuregroups gemacht. Anfang 2017 hatte er deshalb einen viel beachteten Rückzug aus sozialen Netzwerken verkündet. Mittlerweile berichtet Ismail Küpeli auch wieder bei Twitter und Facebook über das Geschehen in der Türkei.

 

 

Sonntag, 22.1. im ADA: Duterte und die Philippinen

Duterte, eine Blaupause für Trump mit Niklas Reese am Sonntag, 22. Januar im ADA

 

Den Auftakt macht eine Veranstaltung mit Niklas Reese zu den Philippinen, wo es bereits im April 2016 zur Wahl eines autokratisch auftretenden Rodrigo Duterte kam – trotz oder gerade wegen seiner Gewaltaufrufe und brutaler Ideen die er im Wahlkampf verkündete. Das Phänomen Duterte, in dessen Regierung auch drei maoistische Minister vertreten sind, lässt sich nicht einfach fassen. Sein egomanisches Auftreten wirkt im Nachgang jedoch wie eine Blaupause für den ein halbes Jahr später gewählten Donald Trump. Anders als Trump konnte Duterte jedoch bereits einige seiner Vorhaben realisieren – in Europa sind hauptsächlich extralegale Exekutionen angeblicher «Konsumenten» und «Dealer» von Drogen bekannt geworden. Welchem Zweck Todesschwadrone und überfüllte Knäste dienen, bleibt meist unbeleuchtet.

Am 22.1. wollen wir Ursachen und Folgen der Politik Dutertes etwas genauer betrachten. Die philippinische Gesellschaft hat inzwischen ein dreiviertel Jahr lang Erfahrungen mit einem «neuen Politikkonzept» gemacht. Wir möchten wissen, wie sich die Herrschaft eines egomanen Autokraten auf eine vielfältige Gesellschaft auswirkt, wie es sich anfühlt, in “Duterte-Land” zu leben und ob sich auch für Europa Erfahrungen ableiten lassen, obwohl die philippinische Politik viele Besonderheiten aufweist.

Niklas Reese ist ist Herausgeber des «Handbuch Philippinen» und Soziologe. 2015 promovierte er über das politische Bewusstsein auf den Philippien. Niklas Reese lebte lange in der Stadt Davao, in der Duterte als Bürgermeister eine Art  «Probelauf» für seine Präsidentschaft absolvierte, seit zwei Jahren lebt er in Manila.

Politik in der Rechtskurve – Teil 1: Duterte und die Philippinen, mit Niklas Reese.

Sonntag, 22.1.2017, 17:00 Uhr, Café ADA, Wiesenstraße 6, Wuppertal.
Der Eintritt ist frei, Spenden werden gerne entgegengenommen.

Wo finde ich das Café ADA in Wuppertal ? (Google-Maps)