Antifa heißt vorbereitet sein. Österreich, was geht?

Diskussionsveranstaltung mit Julia (Antifa-Referat ÖH Wien)

Donnerstag, 6. Juni 2019, 19:30 Uhr, AZ Wuppertal, Markomannenstraße 3, Elberfeld

Als wir die Veranstaltung mit Julia geplant haben, war noch keine Rede vom „Ibiza-Video“ mit Heinz-Christian Strache. (Wir gehörten nicht zu jenen, die schon vorab informiert waren.) Ein Ende der rechten Regierung in Österreich aus ÖVP und FPÖ schien in weiter Ferne zu liegen. Mit unserem Gast aus Wien wollten wir über die Herausforderungen diskutieren, denen sich die Antifa ausgesetzt sieht, wenn Rechtsradikale nicht mehr nur indirekt Diskurse und politische Entscheidungen bestimmen, sondern Machtpositionen des Staates direkt besetzen. Am Ziel der Veranstaltung hat sich nichts geändert. Im Umfeld zunehmenden Drucks von rechts stellen sich durch das eher zufällige vorläufige Ende einer Regierung für antifaschistische Akteure schließlich keine ganz neuen Aufgaben. Im Gegenteil; Julia schrieb uns: „Die Situation für antifaschistische Arbeit ändert sich dadurch freilich wenig, es ist allerdings noch unberechenbarer geworden.“

Unberechenbar heißt auch, dass bei den aktuellen Entwicklungen im Nachbarland ein Ankündigungstext keine Halbwertzeit hat, die bis zum Abend der Veranstaltung reicht. Weder ist klar, wie die – nach den Rücktritten der FPÖ-Minister*innen und dem Mißtrauensvotum gegen Sebastian Kurz – installierte Interimsregierung agieren wird, noch sind bisher alle Aspekte des vorangegangenen Skandals bekannt. Es ist auch nicht abzusehen, wie erfolgreich die antisemitisch eingefärbte Selbstdarstellung der FPÖ als Opfer im Hinblick auf die Neuwahl im September sein wird. Die Ergebnisse der Europawahl in Österreich machen da wenig hoffnungsfroh.

Dagegen tritt es etwas in den Hintergrund, dass die bisherige Politik der ÖVP/FPÖ Regierung bis heute durch Sebastian Kurz hochgelobt wird. Das Profil der jetzt gescheiterten Regierung ist knapp beschrieben: Die CDU/CSU-Schwesterpartei ÖVP hatte sich im Ende 2017 die ökonomischen Schlüsselministerien geschnappt, die rechtsradikale FPÖ stellte hingegen mit Herbert Kickl den Innenminister, erhielt Zugriff auf das Verteidigungs- und Sozialministerium und auf das für den Umgang mit Geflüchteten zuständige Ressort. Anderthalb Jahre genügten, das Land damit erheblich zu verändern.

Beim Umgang mit Geflüchteten wurde nicht gezögert, lange von der FPÖ propagierte rechte Träume zu erfüllen und die Lebensbedingungen von Asylsuchenden und Migrant*innen in Österreich drastisch zu verschärfen. Quasi im Gegenzug war es der ÖVP möglich, eine von der Kapitalseite geforderte Stutzung von Arbeiter*innenrechten und soziale Kürzungen umzusetzen. Und spätestens mit der Razzia im österreichischen Verfassungsschutz Anfang 2018, bei der die dem Innenminister unterstehende Polizei 40 Gigabyte sensibler Daten mitnahm, wurde klar, dass in die Hand rechter Politiker*innen geratene Sicherheitsapparate eine elementare Gefahr darstellen.

Für österreichische Antifaschist*innen stellen sich in dieser Lage neue Anforderungen. Antifaschismus als Haltung und Handlung sind Konstanten, die historisch in bestimmten Situationen mal offensiv, dann wieder zunehmend defensiv gelebt und umgesetzt werden können. Antifa ist immer auch eine Suche nach der richtigen Reaktion auf die jeweilige Formierung der Faschisten. In Österreich wie in Deutschland können Antifaschist*innen in dieser Beziehung auf einen besonderen (und schmerzhaften) historischen Schatz an Erfahrungen zurückgreifen, dessen wichtigste Erkenntnis ist, dass es antifaschistischen Widerstand auch unter den schlimmsten Bedingungen immer gab.

Doch was sagt uns das 2019? Wie sollen wir heute reagieren? Welche Erfahrungen haben österreichische Genoss*innen unter dem Druck einer protofaschistischen Regierung gemacht? Lassen sich vorhandene Strukturen aufrechterhalten oder ist eine Reorganisation notwendig? Hätten vor der Nationalratswahl 2017 andere Strategien gewählt werden müssen? Und auf welche Bündnispartner kann die Antifa setzen, wenn die bürgerlichen Parteien eine gemeinsame Agenda mit Rechten umsetzen und der Widerstand der Zivilgesellschaft dagegen nur gering ausfällt? Für uns in Deutschland ergeben sich aus ihren Erfahrungen eigene Fragen: Inwieweit ist die Situation in Österreich und Deutschland eigentlich vergleichbar? Was können wir in einer Situation, in der (noch) keine offen rechte Partei mitregiert, von unseren Genoss*innen lernen? Und nicht zuletzt: Welche Unterstützung ist in einer derartigen Lage von außen notwendig? Was könnten wir von hier aus leisten?

Dass unsere Veranstaltung durch die Entwicklungen neue Aktualität gewonnen hat, freut uns natürlich auf ganz vielen Ebenen. Mit Julia vom Antifa-Referat der ÖH Wien wollen wir die aktuellen Fragen natürlich berücksichtigen, die grundsätzlichen strategischen Überlegungen dabei jedoch nicht aus den Augen verlieren. (Julia ist bei Twitter: Antifa-Prinzessin; @_schwarzeKatze)

Antifa heißt vorbereitet sein! Österreich, was geht?

Donnerstag, den 6. Juni im Autonomen Zentrum Wuppertal. Beginn 19:30 Uhr, Eintritt frei.

Eure Beteiligung an unserem Gespräch ist unbedingt erwünscht.
Ihr könnt bereits vorab Fragen an Julia stellen. Dafür haben wir eine E-Mail-Adresse eingerichtet. Fragen, die bis Donnerstagmorgen bei uns eingehen, können wir bei der Diskussion berücksichtigen.
Die E-Mail-Adresse lautet: oesterreich-was-geht@so-ko-wpt.org

Mit dieser Veranstaltung setzen wir nach einer Pause unsere Reihe „Politik in der Rechtskurve“ fort.

Reprise. Fortsetzung der Reihe.

Auftaktveranstaltung zu Österreich mit Julia aus Wien am 6. Juni 2019.

Nachdem wir die Veranstaltungsreihe „Politik in der Rechtskurve“ im Herbst 2017 vorläufig beendet hatten, ist viel passiert. Unsere Haupt-Intention bei den Veranstaltungen, bei denen wir über die Situation auf den Philippinen, in Frankreich, der Türkei und Deutschland vor der Bundestagswahl sprachen, war seinerzeit gewesen, die weltweiten Diskursverschiebungen und die unterschiedlichen Wirkungsweisen rechter Narrative zu verstehen und eine Basis für Interventionen zu finden, bevor sie sich in realen politischen Verhätnissen abbilden. Inzwischen hat sich der Fokus zwangsläufig verschoben.

Der Angriff des Front National in Frankreich zerschellte zwar an einer Neuformierung der neoliberalen Kräfte um Macron, dafür gab es Verfestigungen rechter Macht in jenen Ländern, die schon damals autoritär regiert wurden (Ungarn, Polen, Türkei, die Philippinen). Neue Machtzentren rechtsradikaler Politik sind dazu gekommen, bspw. in Italien oder in Österreich. Auch in Deutschland konnte sich mit der AfD eine rechtsradikale Partei inzwischen in allen Parlamenten etablieren und die gerade stattgefundene Europawahl zeigt, dass sie aus Überzeugung auch wiedergewählt wird.

Grund genug für uns, die Reihe in loser Folge mit einem veränderten Schwerpunkt fortzusetzen. Ging es uns damals um die Frage, wie die weitere Etablierung rechter Politik eventuell verhindert werden kann, muss es heute darum gehen, eigene Handlungsspielräume in protofaschistischen Umgebungen zu erkunden und die damals wenig erfolgreichen Strategien zu hinterfragen. Wir werden uns bei der Folgereihe also mit den Erfahrungen beschäftigen, die Antifaschist*innen machen müssen, wenn „es“ passiert und Rechte in die Zentren der Macht gelangen. Und wir wollen erfahren, wie antifaschistische Arbeit unter den veränderten Bedingungen weiter möglich ist.

Zum Auftakt beschäftigen wir uns mit Österreich.

In der Rechtskurve verunfallt

Zum (vorläufigen) Abschluss der Reihe „Politik in der Rechtskurve“

Zwei Wochen vor der Bundestagswahl konnten wir Regina Wamper vom Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung für unsere fünfte und vorerst letzte Veranstaltung der Reihe „Politik in der Rechtskurve“ gewinnen. Im Rahmen der lokalen Aktionstage zur „We‘ll come United“-Demonstration in Berlin richteten wir unseren Fokus nach den vorangegangen Diskussionen zu rechter Politik auf den Philippinen, in der Türkei und Frankreich auf die Diskursverschiebungen in Deutschland. Heute ist der Unfall in der Rechtskurve passiert, die Wahl gelaufen, mit der AfD sind rechtsextreme Einstellungen in Fraktionsstärke parlamentarisch vertreten und alle anderen Parteien versuchen rechten Diskursen hinterher zu laufen.

Erfreut stellen wir jedoch fest, dass ein Ergebnis dieses Rechtsrucks ein inzwischen gesteigertes Interesse ist, seit dem 24. September häufen sich Veranstaltungen zum Thema und die meisten sind gut besucht. Für uns ist das ein geeigneter Zeitpunkt, unsere Reihe vorerst zu beschließen, eine Fortsetzung im nächsten Jahr ist jedoch angedacht. Denn noch immer sind wir davon überzeugt, dass im transnationalen Maßstab „eine monokausale Betrachtung der politischen Entwicklung (…) nicht erfolgversprechend [ist].“ Erst das Herausarbeiten des Verbindenden von autoritär-caesaristischen und libertär-rechten, national-chauvinistischen oder klerikal-faschistischen Konzepten, die sich zu einem scharfen weltweitem Abbiegen nach Rechts summieren, lassen sich wirksame Gegenstrategien entwickeln.

Zur Veranstaltung „Flucht und Asyl: Diskurs kaputt?“ am 8.9.2017

Das Sprechen und Schreiben über Flucht und Geflüchtete hat sich seit dem „Sommer der Migration“ deutlich verändert. Sagbarkeitsräume sind verschoben, Tabus sind gebrochen, Problemsetzungen verdreht worden; was vor drei Jahren noch als politisch und moralisch verwerflich galt, wird mittlerweile mit „Sachzwängen“ begründet und als normal gesetzt. Diese Verschiebung ist nicht allein von AfD, Pegida und deren Kampfmedien durchgesetzt worden – sie spiegelt sich ebenso in der Berichterstattung und den Kommentarspalten deutscher Leitmedien. Regina Wamper hat zusammen mit Margarete Jäger die Tageszeitungen taz, FAZ und Süddeutsche Zeitung ein Jahr lang (von August 2015 bis Juni 2016) in Hinblick auf ihre Berichterstattung in Leitartikeln und Kommentaren zum Themenfeld Flucht, Asyl und Migration ausgewertet. (Die Studie steht als pdf-Download zur Verfügung).

Ausgangspunkt und Prämisse ihrer Diskursanalyse ist die Annahme, dass Medien nicht (nur) Vermittlungsinstanz von Wirklichkeit sind, diese also nicht (nur) abbilden, sondern dass sie Wirklichkeit selbst mitproduzieren: Diskurse, die Art wie über gesellschaftliche Probleme und politische Entwicklungen berichtet wird, wirken selbst wiederum auf gesellschaftliche Realität ein. Die untersuchten Leitmedien bilden dabei ein relativ breites Spektrum von öffentlichem Diskurs ab und beeinflussen ihrerseits Diskurse im Alltag und auch die Wahrnehmung gesellschaftlicher Probleme in der deutschen Mehrheitsbevölkerung. Die Analyse von Regina Wamper und Margarete Jäger bezieht sich zunächst auf den Fluchtdiskurs in deutschen Medien, die Verschiebungen in der gesellschaftlichen Problemwahrnehmung werden Untersuchungsgegenstand einer Folgestudie des DISS sein.

De-Legitimierung von Flucht: Wer ist noch „legitim Geflüchteter“?!

Die Aufteilung bzw. Unterteilung von Geflüchteten in „gute“ und „schlechte“ begann bereits unmittelbar nach der Entscheidung gegen eine Schließung der Grenzen im Spätsommer 2015 und bezog sich zunächst auf Flüchtlinge mit „guter“ versus „schlechter Bleibeperspektive“ – wobei eine „schlechte Bleibeperspektive“ vor allem diejenigen hatten, die aus den Westbalkanstaaten kamen und vorwiegend Roma und arm waren. zu dem Zeitpunkt wurde eine schnelle Ablehnung und Ausweisung der „schlechten“ noch mit der nun notwendigen schnellen Integration der „guten“ Flüchtlinge begründet, wobei das Narrativ implizierte, dass die notwendigen Integrationsressourcen nicht für alle zur Verfügung stünden. Dabei wurde selbst die ehrenamtlichen Flüchtlingshilfe als begrenzte Ressource aufgefasst. Die Forcierung von Abschiebungen wurde dadurch gleichsam zum humanitären Akt und zur Unterstützung der freiwilligen Flüchtlingsunterstützung durch die Bevölkerung.

In den Folgemonaten war allerdings zu beobachten, dass immer weniger Personen unter den Begriff „legitim Geflüchtete“ subsummiert wurden: Zunächst fielen die AfghanInnen heraus, und nachdem der Innenminister äußerte, es sei unverständlich, dass Menschen ein Land verließen, in welches die Bundesrepublik Deutschland Soldaten schicke, gingen die zuvor relativ hohen Schutzquoten für AfghanInnen tatsächlich zurück. Später wurden allgemein die zuvor noch als „Schutzsuchende“ Bezeichneten zu „illegalen Einwanderern“: Angela Merkel nutzte diesen Ausdruck im Kontext des EU-Türkei-Deals ab November/Dezember 2015 auch für diejenigen, die immer noch die griechischen Inseln erreichten. Die Trennung zwischen „guten“ und „schlechten“ Flüchtlingen erfolgte jetzt nicht mehr unter Bezug auf Herkunftsländer und (unterstellte) Fluchtgründe, sondern auch in Hinsicht auf den aktuellen Ort des Aufenthalts und den Zeitpunkt der Flucht. Alle, die sich ohne Visum entlang der Fluchtrouten aufhielten und alle, die noch nicht in Deutschland angekommen waren, waren nun zu „illegitimen Einwanderern“ geworden.

Auch die Benennung von Problemen verschob sich zunehmend: Die Berichterstattung wendete sich von Problemen ab, die Flüchtlinge aufgrund der Notwendigkeit und der Bedingungen ihrer Flucht haben. Stattdessen richtete sich die Aufmerksamkeit immer mehr auf die angeblichen oder tatsächlichen Probleme, die die meistens übertrieben dargestellte hohe Zahl der Geflüchteten für das Land mit sich bringt: Angefangen von Management-Problemen bei der Aufnahme und Unterbringung, knappen Ressourcen an Wohnraum oder Deutschkursen, bis hin zu einem diffusen Bedrohungsszenario durch eine „unkontrollierte Zuwanderung“. Als Bedrohungsszenario entwarfen manche JournalistInnen zu Recht die zunehmenden rassistischen Mobilisierungen, die sie jedoch als angeblich unausweichliche Folge der Migrationsbewegung oft wieder den gestiegenen Flüchtlingszahlen zuschrieben.

Aus „Schutz für Schutzsuchende“ wird „Schutz vor Schutzsuchenden“

Die Phrase von der „kippenden Stimmung“, womit das baldige Ende der zuvor noch ausgerufenen „Willkommenskultur“ gemeint war, wurde in allen untersuchten Medien spätestens ab Oktober 2015 wie ein Mantra wiederholt und die Prognose durch die ständige Wiederholung zunehmend unhinterfragbar. Unterstellt wurde dabei häufig, dass Migration zu Rassismus und mehr Migration zu mehr Rassismus führt – eine Behauptung, die empirisch nicht belegbar ist. Zugleich wurde die Hilfsbereitschaft vieler Menschen schon ab Ende September 2015 zunächst vereinzelt, dann immer häufiger als naiv abgewertet. In einer grotesken Ursache-Wirkungs-Verdrehung wurde die zuvor gefeierte „Willkommenskultur“ von einem FAZ-Autoren sogar verdächtigt, als „Pull-Faktor“ zu wirken, die Menschen mit Teddybären und selbstgebackenem Kuchen also erst nach Europa zu locken.

Während einerseits bis zum Ende des Jahres 2015 die Integration der Angekommenen problematisiert wurde, wobei noch immer auch die Bedürfnisse und Probleme der Geflüchteten argumentativ einbezogen wurden, richtete sich die mediale Kritik somit zunächst gegen die „naiven“ Helfer und Unterstützerinnen. Wenn Geflüchtete nicht durch die von ihnen produzierte Hilfsbereitschaft nach Europa „gelockt“ würden, ergäbe sich gar kein Anlass für „die Sorgen der Bürger“ und damit kein Anlass für Rassismus. Die damals sprunghaft zunehmenden Angriffe auf geplante und bewohnte Unterbringungen und die damit verbundenen Bedrohung der Geflüchteten wurden so unausgesprochen dem hilfsbereiten Teil der Gesellschaft in die Schuhe geschoben. Das von der AfD und „Pegida“ bis heute verwendete Narrativ der „Volksverräter“ findet in dieser perfiden Argumentation in den Diskursen zum Ende des Jahres 2015 einen seiner medialen Vorläufer.

Spätestens nach den sexistischen Übergriffen in der Silvesternacht 2015/2016 in Köln wurden Flüchtlinge dann selbst nicht mehr als Bedrohte, sondern ihrerseits als die Bedrohenden dargestellt. Aus „Schutz für Geflüchtete“ wurde „Schutz für Deutsche“, womit sich der Mainstream-Diskurs endgültig den Argumentationsmustern der AfD annäherte. Diese neuerliche Verschiebung fiel zeitlich mit hektischen politischen Maßnahmen zum Fernhalten, zur Entrechtung und schnellen Ausweisung der (nicht erwünschten) Flüchtlinge zusammen. Der EU-Türkei-Deal, die Asylpakete 1 und 2, die Beschleunigung von Abschiebungen wurden dementsprechend auch in der Presse angesichts „zu vieler Geflüchteter“ immer mehr zu notwendigen Sachzwängen erklärt.

Die absurde Propaganda von der „Lügenpresse“

Im Zuge dessen rückte zuvor auch für konservativ bürgerliche Kommentatoren noch Unformulierbares immer mehr in den Bereich von akzeptablen Forderungen: zeitlich unbegrenzter Sonder-Lagerzwang, keine Einschulung von Flüchtlingskindern, das Ertrinken-Lassen vor den Grenzen Europas oder das völkerrechtswidrige Refoulement (Zurückschieben) von Flüchtenden in Länder, in denen sie recht- und schutzlos sind. Heute ist all dies skandalöse aber kaum noch hinterfragte Realität. Bootsunglücke im Mittelmeer sind inzwischen europäischer Alltag, Rettungsorganisationen werden als kriminelle Organisation behandelt und Sklavenhandel und Vergewaltigungen oder Folter in libyschen „Auffangzentren“ führen nicht zum Ende der Kooperation mit der selbsternannten libyschen Küstenwache.

Als De Maiziére den EU-Türkei-Deal im April 2016 mit dem Satz „Auch wenn wir jetzt einige Wochen ein paar harte Bilder aushalten müssen, unser Ansatz ist richtig.“ kommentierte, hatte er Recht – nicht mit dem „Ansatz“, aber mit dem Gewöhnungseffekt. Die heute jetzt auch parlamentarisch vertretenen rassistischen und menschenverachtenden Aussagen und Forderungen der AfD und ihrer AnhängerInnen wurden durch die „Leitmedien“ bereits früh normalisiert und vorbereitet. Es ist ein absurder Vorgang, dass diese mediale Diskursverschiebung nach rechts hinter der Propaganda der AfD von einer angeblichen „Lügenpresse“ beinahe verschwindet. Der Zeitraum einer „flüchtlingsfreundlichen“ Berichterstattung, auf den sich diese Propaganda beruft, war kurz – schon im September 2015 sind viele „Leitmedien“ nach rechts abgebogen.

Fast vierzig Prozent Zugewinn – und nun?

Wuppertal liegt voll im (west-) deutschen Trend bei den Ergebnissen der Bundestagswahl vom 24. 9. Die rechte AfD kann in Wuppertal die Anzahl ihrer Stimmen in nur vier Monaten verdoppeln. Auch die LINKE legt zu, „Wohlfühlkieze“ bleiben stabil, sind aber nicht immun gegen rechte Zugewinne. Die Ost-West-Differenz in der Stadt ist verfestigt.

Das Ergebnis der AfD in Wuppertal liegt mit 10,8% ziemlich exakt auf dem Niveau der Ergebnisse für die Partei in Westdeutschland (10,7%), aber über dem Ergebnis in NRW (9,4%), (im Osten Deutschlands wählten 21,7% die AfD). In NRW gehört Wuppertal neben vielen Ruhrgebietsstädten damit zum oberen Mittelfeld der rechten Ergebnisse. Deutlich besser schnitt die AfD lediglich im Norden des Ruhrgebiets ab (in Essen II 15%, in Duisburg II 15,4%, in Gelsenkirchen 17%). In Münster (4,9%), Köln (5%-8%) und in Düsseldorf I (7,9%) bekam die AfD hingegen unterdurchschnittlich wenige Stimmen. Angesichts eines eher wenig präsenten AfD-Wahlkampfs in der Stadt ist es ernüchternd, dass sich Wuppertal in den Gesamttrend der Wahl einreiht. Im Gegensatz zu anderen Städten ist es hier nicht gelungen, den Trend zu rechter Politik zu brechen. Und es wird nicht einfacher werden. Nach dieser Wahl muss einkalkuliert werden, dass die AfD auch im lokalen Umfeld zukünftig deutlich präsenter sein wird. Von den etwa 400 Mio. Euro, die ihr durch Parlamentszugehörigkeiten in den nächsten vier Jahren zufallen, wird ganz sicher auch ein Teil nach Wuppertal fließen.

Nach der Landtagswahl konstatierten wir „13.574 WuppertalerInnen wählen rechts“. Das waren verdammt viele, doch die Zahl ist seit dem Mai nochmals deutlich größer geworden. Bei der Bundestagswahl vor drei Wochen machten 20.645 Menschen ihr Kreuz bei einer der rechten Parteien. Alleine auf die AfD entfielen 18.931 Stimmen. Im Vergleich zu den 12.586 Stimmen bei der Landtagswahl sind das 50% mehr. Auch wenn die höhere Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl berücksichtigt wird, ist das eine Steigerung um 37,8% – geht man davon aus, dass die Wahlanteile gleichbleibend erhöht worden sind. (Im Landesschnitt von NRW hat die AfD nach dieser Berechnung ebenfalls 38% Stimmen im Vergleich zur Landtagswahl hinzugewonnen.) Die Steigerung um fast 40% in nur vier Monaten ist besorgniserregend und löst Fragen nach der Ursache aus. Handelt es sich um einen bundespolitischen Effekt, oder ist die eindeutig rechts positionierte Bundes-AfD wählbarer, als die sich unter Markus Pretzell gemäßigter gebende Landes-AfD? Dagegen spricht jedoch das eher stabile, wenngleich marginale NPD-Ergebnis, die nach 567 Stimmen im Mai immerhin noch von 423 Nazis in Wuppertal gewählt wurde.

Bei Betrachtung der Wuppertaler Einzelergebnisse fällt zunächst auf, dass die AfD in allen Wahlbezirken, also in allen Milieus und allen Lagen, in ähnlicher Weise dazu gewinnen konnte. Negativ interpretiert bedeutet das, dass auch Viertel mit noch im Mai sehr schlechten Ergebnissen für die Partei nicht immun gegen den Rechtsruck sind. Positiv betrachtet, flacht sich die Kurve der Zugewinne hingegen in den bisher als AfD-Hochburgen geltenden Wahlbezirken zunehmend ab. Ergebnisse von mehr als 20% bleiben die Ausnahme (ihr bestes Ergebnis erzielte die AfD mit 24,76% in Ronsdorf-Ost, Wahlbezirk 210, 52 Stimmen). Dabei gibt es einzelne Ausreißer, bei denen sich ein genauerer Blick auf die Bedingungen lohnen würde. Im Wahlbezirk 114 (Steinweg, Barmen 86 Stimmen) ist es der Partei gelungen, mit 22, 75% stärkste Partei zu werden, noch vor der SPD, die hier noch bei der Landtagswahl fast doppelt soviele Stimmen wie die AfD bekommen hatte. (SPD Landtagswahl: 32,12%; Bundestagswahl: 22,49%)

Auffällig ist die nach wie vor geringe Wahlbeteiligung in jenen Wahlbezirken, in denen die AfD besonders gute Ergebnisse erzielen konnte. Vielfach liegt dort die Beteiligung an der Wahl nach wie vor unter 50%. Ebenso auffällig ist die nach wie vor bestehende Ost/West-Differenz. Mit wenigen Ausnahmen wie Ronsdorf-Ost oder in Vohwinkel (ausgerechnet im Wahlbezirk 88/ Elfenhang) befinden sich alle Bezirke mit überproportional hohen AfD-Anteilen in Wuppertals Osten; in Barmen, Oberbarmen, Langerfeld und Heckinghausen. Dass es nicht ein höherer Anteil an BewohnerInnen mit Migrationshintergrund ist, der beispielsweise für die Ergebnisse in Oberbarmen verantwortlich ist, zeigt das Beispiel der im Norden Elberfelds liegenden Gathe, die in Lokalpresse und von AfD-Hetzern in den sozialen Netzwerken oft als ein Hort des Bösen skandalisiert wurde. Hier konnte die AfD nur 7,23% holen (42 Stimmen), weit hinter die LINKE, die an der Gathe zweitstärkste Partei wurde (24,44%, 142 Stimmen).

Alle Einzelergenisse zeigen, dass die beiden großen Parteien SPD und CDU in ihren Hochburgen jeweils deutlich verloren haben. Doch während im Osten davon vor allem die AfD profitierte, war es in einigen Wahlbezirken des Elberfelder Nordens die LINKE. Sie konnte zum Beispiel im Wahlbezirk Schleswiger Straße, im Herz des noch bei der Landtagswahl zwischen rechts und links heftig umkämpften Bezirkes um den Platz der Republik, diesmal mit 24,44% stärkste Partei werden (152 Stimmen). Die AfD erhielt hier lediglich 40 Stimmen oder 6,43% (fast gleichbleibend zu Mai). In anderen Wahlbezirken am Opphof sieht das Wahlergebnis nicht so gut aus. Auf der östlichen Seite des Platz der Republik, am Engelnberg, konnte die AfD die LINKE jetzt als dritte Kraft ablösen (AfD 13,38%, 84 Stimmen, die LINKE 11,62% 66 Stimmen). Die „andere Seite“ der Elberfelder Nordstadt bleibt also, bei konstant niedriger Beteiligung und teils katastrophalen Ergebnissen für SPD und CDU,  ein umkämpftes Gebiet.

Der Ölberg bleibt nach wie vor Ort linker Hegemonie. Die LINKE konnte bei schon vorher guten Werten auch bei der Bundestagswahl nochmals deutlich zulegen. Am Hombüchel (29,67%, 214 Stimmen), in der Marienstraße (28,20%, 247 Stimmen) und auch in der Helmholtzstraße (26,37% 173 Stimmen) wurde sie stärkste Partei. Die AfD kam in diesen Bezirken auch diesmal nicht über die 5%, konnte aber dennoch überall an absoluten Stimmen rund 30% zulegen. Das sind im Vergleich zur Landtagswahl im Mai jeweils zwischen sieben und zehn in der unmittelbaren Nachbarschaft wohnende WählerInnen mehr. Auch auf dem Ölberg gibt es Wahlbezirke mit größeren AfD-Zugewinnen. Sie konnte im Wahlbezirk 10 (das Gebiet Ekkehardstraße, Grünewalder Berg und der untere Teil des Ölberges) zum Beispiel ihr Ergbnis von 2,91% auf 6,37% steigern. Gleich 18 NachbarInnen mehr als im Mai haben hier nun rassistisch gewählt, bei der Landtagswahl waren es nur 13 gewesen.

Das macht deutlich, dass auch die Gegenden, in denen sowohl im Alltag als auch bei den Wahlen bislang kaum etwas vom Rechtsruck der Gesellschaft zu spüren gewesen ist, nicht immun dagegen sind. Es wäre ein Fehler zu glauben, die oft so genannten „Wohlfühlkieze“ als dauerhaft gesichert gegen rassistische Tendenzen anzusehen. Denn was bedeutet „Wohlfühlkiez“ über (noch) beruhigende Wahlergebnisse hinaus? Wenn die Wahlbezirke betrachtet werden, in denen die AfD eher wenig Zustimmung findet, dann lässt sich häufig ein großes zivilgesellschaftliches Engagement auch außerhalb der Wahlperioden feststellen. Viele Initiativen und Interventionen – nicht zuletzt auch linke – sind für ein Klima verantwortlich, in dem sich eine Kritik am Bestehenden eher konstruktiv von links artikuliert. Diese Alltagsarbeit jedoch ist im wahrsten Sinn des Wortes viel zu oft prekär – unhonoriert, freiwillig und sie wird sehr oft mit zu wenigen Aktiven geleistet. Kleine Änderungen der Lebensumstände der Beteiligten oder der Umgebung können ausreichen, diese Arbeit in den Kiezen einschlafen zu lassen.

Wenn Viertel, die über sehr heterogene Nachbarschaften definiert werden, einen sozio-kulturellen Wandel durchlaufen – so, wie es anlässlich der sehr speziellen Wuppertaler Form von Gentrifizierung gerade auf dem Ölberg passiert – besteht die Gefahr, dass zuvor gewachsene linke Interventionsmöglichkeiten marginalisiert werden, wenn sie nicht bewusst aufrecht erhalten werden. Da kann die Schließung einzelner Lokale, die als Orte des Austauschs dienten schon reichen, wesentlich an Einfluss zu verlieren. Und dabei geht es nicht um Agitation sondern um permanenten Austausch. Es geht viel öfter darum, dass rechte Entwicklungen gar nicht Fuß fassen können. Angesichts von etwa 50% NichtwählerInnen auch auf dem Ölberg könnten auch dort Wahlergebnisse künftig überraschend negativ ausfallen, wenn die Erweiterung von Sagbarkeitsräumen und rechte Diskursverschiebungen zugelassen werden. Ähnliches gilt für die Gegend um den Mirker Bahnhof und die Wiesenstraße.

Die nach der Landtagswahl diskutierte Alternative, besser in anderen, scheinbar schon „gekippten“ oder zumindest „umkämpften“ Vierteln zu intervenieren statt sich auf das eigene Quartier zu konzentrieren, ist keine. Die eigenen Viertel dürfen nicht vernachlässigt werden, so richtig es zweifellos ist, ein rechtes Übergewicht auch in Heckinghausen oder Ronsdorf nicht einfach hinzunehmen. Doch schon nach der Landtagswahl stellte sich die Frage, wie das von der radikalen wie der parlamentarischen Linken gestemmt werden soll. Ohne die eigene Basis zu vergößern, wird das nicht funktionieren. Bevor Interventionen außerhalb eigener Zonen erfolgen können, muss deshalb in Teilen ein Neuaufbau stattfinden. Es könnte sein, dass der „Schock“, den viele angesichts der Wahl dann doch empfunden haben, eine Reorganisation auf breiterer Basis erleichtert.

Doch bevor das passiert ist, stellt sich noch eine ganz andere Frage: Was ist eigentlich mit den großen Parteien? Auch wenn sie bundesweit zur Zeit darum bemüht zu sein scheinen, die AfD rechts überholen zu wollen, ihre katastrophalen Ergebnisse auf lokaler Ebene müssten sie motivieren, gegenzusteuern. Es geht ja auch um „ihre“ Viertel. Es kann nicht sein, dass Alltagsengagement und „demokratische Intervention“ weiterhin an Antifa und Linke delegiert werden, die man ansonsten bekämpft. Mehr noch als in den Sonntagsreden der BundespolitikerInnen wird sich in den nächsten Jahren an der Präsenz in den Quartieren und Nachbarschaften festmachen lassen, ob die „demokratische Mitte“ gewillt ist, dem Rechtsruck etwas entgegenzusetzen – ein vierjährlicher „Türklingelwahlkampf“ oder bei Straßenfesten feilgebotene Bratwürste werden jedoch dafür nicht reichen – da müsste schon mehr kommen. Und wenn sie sich personell oder inhaltlich nicht dazu in der Lage sehen, sollten sie dafür sorgen, dass in der Stadt mehr Mittel als bisher für Initiativen bereit gestellt werden.

Regina Wamper: Asyl und Fluchtdiskurse seit 2015

Dem Vortrag von Regina Wamper mit anschließender Diskussion im Rahmen der “We’ll come United”-Aktionstage in Wuppertal am 8. September lag die von ihr gemeinsam mit Margarete Jäger veröffentliche Studie des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung (DISS) „Von der Willkommenskultur zur Notstandsstimmung” aus dem Jahr 2017 zugrunde.

Download als pdf-Datei: DISS-2017-Von-der-Willkommenskultur-zur-Notstandsstimmung

Freitag, 8.9., Alte Feuerwache: Kaputter Asyldiskurs

Unsere Veranstaltungsreihe zur „Politik in der Rechtskurve” war als Beitrag des so_ko_wpt im Jahr einer Bundestagswahl gemeint, bei der sehr wahrscheinlich erstmals seit Jahrzehnten eine immer offener rechtsradikale Partei in das Parlament einziehen wird. Zwei Wochen vor der Wahl beschließen wir zunächst diese Serie von Diskussionsveranstaltungen.

Nachdem wir uns zuvor den Aspekten rechter Politik- und Wirklichkeitskonzepte auf den Philippinen, in der Türkei und in Frankreich gewidmet haben, wollen wir uns am 8. September mit unserer Referentin Regina Wamper vom Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung (DISS) um die Hintergründe rechter Diskursverschiebungen in Deutschland kümmern. Eine Auswertung unserer Reihe, inklusive des bislang fehlenden Beitrags zur Veranstaltung mit Bernard Schmid zur Situation in Frankreich, folgt nach der Wahl im Laufe des Herbstes.

Eine Veranstaltung im Rahmen der Wuppertaler Aktionstage zu „WE’LL COME UNITED“.

Diskussion: Flucht und Asyl – Diskurs kaputt? Zur Verschiebung des asylpolitischen Diskurses seit 2015. Mit Regina Wamper am Freitag, den 8. September um 19:00 Uhr, Alte Feuerwache (Gathedrale), Gathe 6, Wuppertal-Elberfeld. (Achtung: in den ursprünglichen Ankündigung war als Veranstaltungsort das Café ADA angegeben, aus technischen Gründen musste die Diskussion „nach nebenan“ in die Alte Feuerwache verlegt werden.)

Wie konnte sich nach anfänglich begeisterter Berichterstattung über die „Willkommenskultur” ein wesentlich auch von der AfD getriebener Diskurs der Abschottung und Ablehnung durchsetzen? Regina Wamper beobachtete am „DISS“ im Rahmen ihrer Forschungsarbeit die öffentliche und mediale Rezeption der Ereignisse seit dem so genannten „Sommer der Migration” 2015

Seither hat sich in der Asyl-, Flüchtlings- und Migrationspolitik vieles geändert; nicht allein auf der gesetzlichen, sondern auch auf der diskursiven Ebene. Das Reden über Flucht und Migration und die entsprechenden Wahrnehmungsmuster haben sich, auch getrieben von gezielten Tabubrüchen und Interventionen durch die AfD, verschoben. Nach einer anfänglich begeisterten medialen Berichterstattung zu einer so genannten „Willkommenskultur“ rückten Berichte und Begrifflichkeiten schnell wieder davon ab. Schon im Dezember 2015, als Regina Wamper zuletzt als Referentin zu Besuch in Wuppertal war, war eine zunehmende „Krisenrhetorik“ feststellbar, wobei als Krise in der Ankunft vieler Flüchtlinge in Deutschland bezeichnet wurde, nicht der zunehmende Rassismus und die Angriffe auf sie. Inzwischen hat sich der öffentliche Diskurs fast vollständig gedreht.

Regina Wamper hat die diskursiven Verschiebungen über einen Zeitraum von einem Jahr (2015/2016) anhand verschiedener deutschsprachiger Leitmedien untersucht. Sie kommt zu einem bedrückenden Ergebnis: „Wir müssen feststellen, dass Aussagen, die noch vor fünf Jahren als extrem rechts oder rassistisch bewertet wurden, heute zum Sagbarkeitsfeld des mediopolitischen Diskurses gehören. Die neue Normalität bezüglich Flucht und Migration ist restriktiver als die alte und die alte war bereits restriktiv.“ Spätestens nach den sexistischen Übergriffen der Silvesternacht 2015/16 sei die Forderung nach Schutz für die Schutzsuchenden in Deutschland zurückgetreten hinter die Forderung nach „Schutz“ der deutschen Mehrheitsbevölkerung vor den Geflüchteten.

Wie konnte es geschehen, dass, angesichts und trotz einer sich parallel verstetigenden ehrenamtlichen Flüchtlingshilfe und eines – bis heute anhaltenden – beindruckenden Engagements für Geflüchtete aus der Zivilgesellschaft, klare antirassistische und menschenrechtliche Positionen derartig an den Rand gedrängt werden konnten? Wie konnte es so weit kommen, dass Abschiebungen in breiten Teilen der Bevölkerung mittlerweile ebenso als „normal“ hingenommen werden wie das massenhafte Sterben an den Grenzen Europas? Welche politischen, diskursiven und praktischen Gegenvorschläge und Strategien müssten von FlüchtlingsaktivistInnen und von antirassistischen Gruppen entwickelt werden? Wo gab und gibt es Interventionsmöglichkeiten für antirassistische Positionen? Und wie kann im Rahmen eines solch „kaputt gemachtenen“ Diskurses ein differenziertes Sprechen jenseits von Verwertungslogik und Integrationszumutungen möglich werden, das auch die Herausforderungen und Probleme, die mit einer (globalen) Migrationsgesellschaft verbunden sind, nicht ausblendet?

Über diese und andere Fragen möchten wir am 8.9.2017 mit Regina Wamper diskutieren. (Eintritt: Spende)

Warum ein „Thompson”-Konzert nicht egal ist

Nachdem das Konzert der umstrittenen Band „Thompson” um den nationalistischen Künstler Marko Perković stattgefunden hat, möchten wir noch einmal erläutern, warum es unserer Meinung nach wichtig gewesen wäre, den Auftritt zu verhindern.

In der Reihe „Politik in der Rechtskurve“ beschäftigen wir uns im Wahljahr mit neo-nationalistischen und rechten Tendenzen in der Politik. Weltweit sind in den letzten Jahren nationalistisch-autoritäre oder autokratische Regierungen gewählt oder zur stärksten Opposition geworden, so auch in Kroatien. Zu Kroatien hatten wir keinen Schwerpunkt geplant, doch dann fand am Pfingstsonntag ein Konzert des kroatischen Nationalisten Marko Perković in Wuppertal statt. Ein antifaschistisches Bündnis versuchte mit einem Offenen Brief an die Betreiber des Lokals in dem der Auftritt stattfand und an die Stadt Wuppertal öffentliches Interesse zu wecken. Der Auftritt Perkovićs sollte so verhindert werden, was leider nicht gelang. Eine Mischung aus Desinteresse und Uninformiertheit und ein routinierter Umgang mit den Vorwürfen durch das Management der europaweit umstrittenen Band sorgte dafür, dass das Konzert nahezu ungestört stattfinden konnte. Die durch den Brief erreichte kurzfristige Aufmerksamkeit führte im Gegenteil sogar zu einer Art „Promotion-Artikel“ in der „Wuppertaler Rundschau“. In dem konnte durch Clubbetreiber und das Management unwidersprochen behauptet werden, dass am Abend keine rechte Symbolik zugelassen würde. Das stimmte natürlich nicht, wie Fotos vom Konzert belegen.

Es begann mit Jugoslawien

Gerade eine interessierte Auseinandersetzung mit dem kroatischen Nationalismus wäre jedoch eine wichtige Aufgabe, wenn wir Enstehungsbedingungen und mögliche Folgen eines erstarkenden Nationalwahns in Europa betrachten wollen; denn wer über dessen Anfänge reden will, kann zum Ende Jugoslawiens in den 1990ern nicht schweigen. Versatzstücke der heutigen „Umvolkungs-“ oder „Volkstod“-Argumentionen der neuen Rechten finden sich beispielsweise schon in der Vorgeschichte der später auf dem Balkan geführten Kriege. Serbisch-nationalistische Intellektuelle behaupteten ähnliches schon 1986. In einer „Denkschrift“ von Mitgliedern der Serbischen Akademie der Wissenschaften und Künste, dem so genannten SANU-Memorandum, wurde unter anderem argumentiert, im Kosovo fände ein „Genozid am serbischen Volk“ statt. Begründetet wurde dies auch mit einer höheren Geburtenrate der albanischstämmigen Bevölkerung. Der Betonung serbischer Interessen im Vielvölkerstaat Jugoslawien war ein dramatischer wirtschaftlicher Niedergang des Landes vorausgegangen, und spätestens nach der Implementierung der üblichen neoliberalen Reformen durch den IWF im Rahmen von Verhandlungen zur Umschuldung Jugolslawiens, entstand eine zunehmende katastrophale Lage für die Bevölkerung. Unter anderem sanken bis 1985 die durchschnittlichen Löhne um 40%.

Das traf das Land in ungleichem Maß; die Wirtschaftskraft in der Bundesrepublik Jugoslawien war sehr ungleich auf die Teilrepubliken verteilt. Slowenien und Kroatien waren wirtschaftlich stärker als Serbien und die anderen Landesteile. Eigenständige Bestrebungen der beiden wirtschaftlich starken Republiken zu einer weniger zentral gesteuerten Ausgabenpolitik Jugoslawiens und ein Infragestellen des „jugoslawischen Ausgleichsfonds“ (vglb. dem Länderfinanzausgleich in Deutschland) waren für das zunehmende serbische Empfinden einer Benachteiligung mitursächlich. Nationalisten und die serbisch geführte Regierung reagierten mit der Forderung nach einer Stärkung serbischer Identität, auch und vor allem unter den in den anderen Teilrepubliken lebenden Serben und Serbinnen. In dieser Situation gewann das SANU-Memorandum an Bedeutung, es forcierte zunehmende Forderungen nach einem „Großserbien“, die durch die ultranationalistische „Tschetnik-Bewegung“ von Vojislav Seselj zum Ende der achtziger Jahre formuliert wurde. Ihren Namen gab sich die nationale Bewegung unter Berufung auf serbische anti-osmanische Milizen seit Mitte des 19. Jahrhunderts und monarchistische serbische antikommunistische Milizen im Zweiten Weltkrieg. Die auch von Regierungsseite gestellten serbischen Ansprüche stärkten nationalistische Ansprüche in anderen Teilen Jugoslawiens.

Der Weg zum Krieg: Ansprüche und Identitäten aus der Vergangenheit

Vor allem in Kroatien begann Franjo Tudjman für eine „neue“ kroatische Identität auch die katholisch-christliche und faschistische Geschichte der Teilrepublik zu revitalisieren. Seine Regierung verstärkte die Bemühungen um eine Selbstständigkeit und zu Beginn des Jahres 1990 stellten Slowenien und Kroatien ihre Zahlungen an den jugoslawischen Ausgleichsfond endgültig ein, womit Jugoslawien faktisch aufhörte zu bestehen. Das wirtschaftlich schwächere Serbien und die anderen Teilrepubliken waren auf sich allein gestellt. Am 25. Juli 1990 erfüllt Tudjman schließlich auch formal einen angeblich „tausendjährigen Traum“ von einem eigenen Staat Kroatien. Dafür nahm die von ihm geführte HDZ-Regierung in der Folge offen Bezug auf die „Unabhängigkeit“ Kroatiens im Zweiten Weltkrieg zwischen 1941 und 1945 und dessen mit Nazi-Deutschland verbündete Ustascha-Regierung, die unter dem kroatischen „Führer“ Ante Pavelic zusammen mit der deutschen Wehrmacht die kommunistischen Partisanen und serbisch-nationalistischen Tschetniks bekämpft hatte. Ideologische Basis der alten Ustascha-Regierung waren Elemente des italienischen Faschismus und des deutschen Nationalsozialismus, inklusive antikommunistischer, antisemitischer und rassistischer Orientierungen. Als ehemalige Separatisten-Organisation des Vorkriegs-Jugoslawien gab es bei der Ustascha zudem einen ausgeprägten Serbenhass, der sich aus einer vorgeblichen „Diskrimierung des kroatischen Volkes durch die Serben“ vor dem Krieg speiste. Der kroatische Hass auf Serben fand im KZ Jasenovac seinen brutalsten Ausdruck. Im einzigen, nicht unter direkter deutscher Beteiligung betriebenen Vernichtungslager wurden bis zu 90.000 Menschen durch die kroatischen Faschisten ermordet – die meisten waren Serben, Roma und Juden.

Sichtbarster Ausdruck der Bezugnahme auf die faschistische Ustascha durch die neue kroatische Regierung war die Wiedereinführung des leicht veränderten alten Schachbrettwappens in die kroatische Nationalfahne. Die Identifikation mit der Vergangenheit durch die Regierung Tudjmans führte zu Angst und Protest bei der in Kroatien lebenden serbischen Minderheit, die vor dem Zerfall Jugoslawiens 12% der Gesamtbevölkerung Kroatiens stellte. In der Krajina, den kroatischen Grenzgebieten zu Bosnien, bzw. Serbien, stellten Serbinnen und Serben sogar die Bevölkerungsmehrheit. Nachdem der serbischen Bevölkerung in der neuen kroatischen Verfassung der Status eines „zweiten Staatsvolks“ aberkannt und die in allen nationalitätenpolitischen Belangen zuvor notwendige Zweidrittelmehrheit des Parlaments abgeschafft wurde, gewannen auch in der serbischen Krajina Nationalisten zunehmend an Einfluss. 1991 kam es in der Folge zum Versuch, durch die Abspaltung einer „Republik Serbische Krajina“ (Srpska Krajina) mehrheitlich serbisch bewohnte Teile aus Kroatien herauszulösen. Folge des um die „Srpska Krajina“ bis 1995 geführten Krieges, bei dem nachweislich von beiden Seiten Kriegsverbrechen begangen wurden, war eine Vertreibung zunächst der kroatischen, dann der serbischen Bevölkerung.

Zunächst mussten in der „Srpska Krajina“ lebende Kroaten und Kroatinnen nach der Abspaltung das Gebiet verlassen: Ihr Anteil an der Bevölkerung der Krajina ging in den den Jahren 1991 und 1992 von 36% auf nur noch 7% zurück. Viele Menschen führte ihr Fluchtweg über die gleiche Route wie 25 Jahre später viele der Refugees, die 2015 über die Balkan-Route und Kroatien nach Mitteleuropa gelangten. Im August 1995 startete die kroatische Armee schließlich nach einem häufig fragilen Waffenstillstand die „Operation Sturm“ (Oluja). In nur drei Tagen dwurde das Gebiet der „Srpska Krajina“ eingenommen und dem neuen Staat Kroatien eingegliedert. Nach dem Sieg der kroatischen Armee verließen über 300.000 serbische BewohnerInnen fluchtartig ihre Heimat in Richtung Serbien und Bosnien. Sie fürchteten, kroatischer Rache zum Opfer zu fallen. Die über Lautsprecher verbreitete Anweisung, in den Häusern auf die Armee zu warten, die sich um sie „kümmern würde“, führte teils zur Panik bei den Hals über Kopf aus der Krajina Flüchtenden. Ein Kamerateam des Fernsehens der UN-Friedensmission war fünf Jahre später in der „Serbischen Krajina“. Die taz hat damals ihren Bericht veröffentlicht. „Auf dem Tisch (…) steht ein Teller, darauf etwas, das wohl mal eine Scheibe Brot war. Daneben eine niedrige, henkellose Tasse. Es ist noch ein Schluck türkischer Kaffee darin, darüber zieht sich eine grünliche Schicht Schimmel.“ Von den Geflüchteten sind nur etwa 30% zurückgekehrt, viele von ihnen nur formell, um Ansprüche auf Besitz zu wahren. Die„Operation Oluja“ wird von vielen Serben und Serbinnen bis heute als Pogrom betrachtet, viele Kroaten und Kroatinnen feiern die „operation Sturm“ hingegen jedes Jahr am „Tag der Befreiung“ als „patriotische Heldentat“.

Auf eine Eskalation unvorbereitete Zivilgesellschaft

Der Verlauf der Geschichte und ihre anschließende Erzählung lassen dabei vergessen, dass Nationalisten nicht von Anfang an die Mehrheit der Bevölkerung ausmachten als Jugoslawien zerfiel. Jenseits politischer Systemfragen und wirtschaftlicher Probleme war Jugoslawien für viele ein erfolgreiches Modell eines multiethnischen Staates, der nach langen Auseinandersetzungen den Balkan befriedet hatte. Mehr als 40 Jahre eines gemeinsamen Landes hatten zur Herausbildung einer „jugoslawischen Identität“ geführt. Nationalisten konnten an Boden gewinnen, weil interessierte Gruppen und Funktionsträger des alten Jugoslawien die nationalistische Karte spielten, um eigenen Einfluss zu behalten oder auszuweiten. Doch ohne zum Teil bis heute nicht vollständig aufgeklärte inszenierte gewalttätige Zwischenfälle, hätten provokative Entscheidungen der Politik und die Propaganda nationalistischer Medien zur Entfachung eines Kriegs möglicherweise nicht ausgereicht. Am krassesten war das beim kurze Zeit später begonnenen Krieg um Bosnien in Sarajevo zu erleben, wo noch am 5. April 1992 zehntausende Menschen gegen den Krieg demonstrierten und in der multiethnischen Stadt zunächst ein Zeichen gegen den sich weiter ausbreitenden Nationalismus setzen wollten. Bei der Demo wurden jedoch zwei Frauen von serbischen Heckenschützen ermordet, was die zivilgesellschaftliche Manifestation ins Leere laufen ließ; schon am nächsten Tag fuhren Panzer durch die Stadt.

Die Zivilgesellschaft war auf die Eskalationen nicht vorbereitet und besaß auch nicht die Mittel den sich abzeichnenden Wahnsinn aufzuhalten. Viele verharrten im Gefühl, die durch nationalistische Gruppen geschaffene gesellschaftliche Spaltung könne ihre eigene Umgebung nicht erreichen. Provozierte Ereignisse und Gegenreaktionen entwickelten jedoch einen blutigen Sog, in den immer mehr Menschen gezogen wurden; Partner- und Freundschaften zerbrachen, die gesamtjugoslawische Identität hielt dem Furor nicht stand. Bis heute anhaltende gegenseitige Schuldzuweisungen belegen, wie nachhaltig nationalistische Zerstörung verbindender Grundlagen wirkt. Noch immer verweigern sich vor allem die „Sieger“ des nationalistischen Krieges oft einer selbstkritischen Aufarbeitung des Geschehens. Im Gegenteil; die HDZ-geführten Regierungen Kroatiens, das sich als EU-Mitglied auf der Siegerseite wähnt, haben die Entfesselung des nationalistischen Wahns zum Teil des eigenen Mythos gemacht. Zusammen mit Alt- und Neofaschisten und der katholischen Kirche wird um die blutige Geschichte des Landes teilweise geradezu ein Kult zelebriert. Dazu wird immer wieder der Versuch unternommen, die Geschichte umzuschreiben und die faschistische Vergangenheit des Landes zu relativieren. Die enge Verbindungen zu ultrarechten Gruppierungen wie der neofaschistischen A-HSP unterhaltende HDZ unterstützt beispielsweise traditionell die jährlichen „Gedenkfeiern“ im österreichischen Bleiburg.

Geschichtsrevisionismus in Kroatien

Dort treffen sich jedes Jahr im Mai bis zu 15.000 Menschen um dem so genannten „Massaker von Bleiburg“ zu gedenken, bei dem Angehörige der Ustascha-Truppen, die ihren Kampf gegen die jugoslawische Volksbefreiungsarmee noch nach Kriegsende fortgeführt hatten, von Partisanenverbänden hingerichtet worden waren. Bei dem Treffen, bei dem offen faschistische Symbole gezeigt und Ustascha-Lieder gesungen werden, handelt es sich nach Einschätzungen der österreichischen Anifa um eines der „größte Neonazi-Treffen“ Europas, was einige Vertreter der kroatischen katholischen Kirche und auch der HDZ-Regierungen nicht an einem Auftritt in Bleiburg und am Schulterschluss mit den Teilnehmenden hindert. Die staatliche Förderung für das „Gedenken“ in Bleiburg war von der vorigen HDZ-MOST-Regierung im Jahr 2015 wieder aufgenommen worden, nachdem sich die sozialdemokratische Vorgängerregierung vorsichtig davon distanziert hatte. Die mittlerweile von einer Neuauflage der gleichen Koalition abgelöste national-rechtsliberale Regierung unter Tihomir Orešković hatte sich gleich durch mehrere Vorhaben in die Nähe faschistischer Politik begeben. So wollte „Veteranenminister“ Crnoja ein Register von Personen erstellen, die „Verräter des nationalen Interesses“ seien.

Die Neuwahlen 2016 haben am kroatischen Geschichtsrevisionismus nichts geändert. Wie weit die Umschreibung der Geschichte inzwischen Normalität geworden ist, zeigt eine am KZ Jasenovac von „Veteranen des Bürgerkriegs“ angebrachte Tafel, die „gefallene Kameraden“ mit dem alten Ustascha-Gruß „Za dom spremni!“ ehrt. Der faschistische Gruß, mit dem auch einige kroatische Reaktionen auf den Offenen Brief in Wuppertal unterzeichnet waren, wurde vom jetztigen Premierminister Plenković als Ehrung für die Toten des Unabhängigkeitskrieges bezeichnet, die mit dem Weltkrieg nichts zu tun habe. Das aktuellstes Beispiel für den Geschichtsrevisionismus in Kroatien ist ein Film des Regisseurs Jokov Sedlar; „Jasenovac – Istina“, (Jasenovac – die Wahrheit). Der jüngst von der Stadt Zagreb ausgezeichnete Film behauptet, Jasenovac sei erst durch Titos Kommunisten zum Todeslager geworden, zuvor sei es lediglich ein Sammellager gewesen, in dem die Mehrzahl der Getöteten Kroaten gewesen seien. Die Erzählung negiert die Opfer der Roma, der Juden und der Serben in unerträglicher Weise. Sie ignoriert auch die Tatsache, dass Jasenovac am 22. April 1945 „fast vollständig eingeebnet [wurde], nachdem die letzten rund 1.000 Gefangenen einen verzweifelten Ausbruchsversuch unternommen hatten.“ (Danijiel Majic in der FR am 19.5.2017)

National-Rock statt Balkanparty

Die Identifikation der Regierung des EU-Mitglieds Kroatien mit dem nationalistischen Furor Anfang der 1990er Jahre und die Relativierung der Verbrechen des faschistischen Ustascha-Kroatien haben mit dazu geführt, dass das Land heute als besonders düstere Zone auf der Karte des neo-rechten Europa gelten darf. Neo-Faschisten bilden teilweise hegemoniale Strukturen und nehmen ganz offen Einfluss auf die Regierungspolitik. Das führt dann auch schonmal zu diplomatischen Störungen, wenn, wie vor kurzem im slowenischen Maribor, ein Konzert der Band „Thompson“, deren Name sich auf das von Marko Perković im Kroatienkrieg benutzte Maschinengewehr bezieht, verboten wird. Der Hype um Konzerte wie denen der Band von Marko Perković kann als ein Ausdruck der in Kroatien und bei vielen KroatInnen der Diaspora inzwischen zur Normalität geronnenen nationalistischen Ideologie gewertet werden, die sich mit dem Begriff „Patriotismus“ zu tarnen sucht. Wenn das „Thompson“-Management angibt, Perkovićs Stücke, in denen schonmal als Kriegsverbrecher angeklagte kroatischen Generäle verherrlicht werden, seien „Liebeslieder mit patriotischem Inhalt“ (WR vom 3.6.2017), wird es frostig.

Möglicherweise feierten noch vor wenigen Jahren einige der jüngeren Perković-BesucherInnen am Pfingstsonntag statt zu nationalistischem Rock zu Balkan-Brass, Gypsysounds, Klezmer und elektronischer Musik bei den zwischenzeitlich auch in Wuppertal populären „Balkan-Parties“. Die Parties, bei denen auch schonmal auf den Tischen getanzt wurde, feierten eine jugoslawische Multikulturalität, die durch einen entfesselten Nationalismus vernichtet wurde. Wenn stattdessen ein Club in Wuppertal heute mit KünstlerInnen ein besseres Geschäft machen kann, die nationalistische Kriegstreiberei feiern und dabei auch nicht vor einer Relativierung der faschistischen Epoche Halt machen, ist das ein trauriges Sinnbild dafür, dass kroatische und serbische Nationalisten sich als Vorreiter politischer Entwicklungen in Europa fühlen können. Und wie vor einem Vierteljahrhundert in Jugoslawien trifft ein als „Patriotismus“ verharmloster Nationalismus auch jetzt auf eine manchmal verschlafene Zivilgesellschaft, die zwischen Desinteresse und Naivität nicht wirklich mitbekommt, was in ihrer Mitte abgeht.

Mehr zum Thema:

Der österreichische Standard hat ein längeres Stück zu den Hintergründen von Bleiburg publiziert
Beitrag über kroatischen Neofaschismus in einem ARTE-Film über Europs Rechte

 

Wo liegt das größere Übel? Von Bernard Schmid

Frankreich vor der Stichwahl um die Präsidentschaft.

von Bernard Schmid (am 26.5. unser Gast bei “Politik in der Rechtskurve)
Der Artikel erschien unter einer CC 4.0 Lizenz zuerst bei rubikon.news

Vielleicht läuft es ja in diesem Falle tendenziell anders herum als in dem berühmten Diktum von Karl Marx, das sich auf Napoléon den I. und den III. bezog und demzufolge sich „alle weltgeschichtlichen Geschehnisse zwei mal ereignen: einmal als Tragödie und einmal als Farce“. Zwar stimmt es, dass die Dinge normalerweise so verlaufen, dass ein historisches oder politisches Ereignis zuerst mehr oder minder schwerwiegende Auswirkungen produziert und danach – etwa in der nächsten Generation – gewissermaßen in den Kostümen der bereits überkommenen Epoche nachgespielt wird. Etwa, wenn im Mai 1968 nächtliche Barrikaden errichtet wurden wie bei dem Revolutionsversuch von 1848; nur mit dem gewichtigen Unterschied, dass diese längst ihre militärische Bedeutung eingebüßt hatten, weil keine Polizeipferde mehr an ihren stolpern konnten. Auf Räumfahrzeuge im zwanzigsten Jahrhundert hatten die Barrikaden keinen Einfluss, auf die Symbolik hingegen schon.

Aber dieses Mal ging vielleicht eine Art von Farce einem wesentlich schwerer wiegenden Ereignis voraus. Im April und Mai 2002 gingen bis zu zwei Millionen von Menschen auf die Straße, um die Wahl des damaligen Präsidentschaftskandidaten Jean-Marie Le Pen in den Elyséepalast zu verhindern. Damit verbanden sich durchaus ernste und positive Absichten, und die seinerzeitige Mobilisierung lässt sich sicherlich nicht auf einen Klamauk reduzieren. Die realen Chancen Jean-Marie Le Pens, wirklich zum Staatsoberhaupt gewählt zu werden, waren zu jener Zeit jedoch ungefähr gleich null. Er verfügte damals über keine strukturierte Partei, denn der Front National (FN) war nach der Spaltung zwischen den Anhängern Le Pens sowie seines früheren Chefideologen Bruno Mégret (1999/2000) damals ausgeblutet und hatte ihre meisten Basisaktivitäten eingestellt. Die Führung der Partei war damals mit am meisten über den Einzug in die Stichwahl um das Präsidentenamt überrascht. Und ihr innerer Kreis brach in helle Panik aus, weil er wusste, dass er in keiner Weise auf das Ereignis vorbereitet war.

2017 gelang es der Tochter und politischen Erbin des mittlerweile bald 89jährigen Neofaschisten, Marine Le Pen, unter stark veränderten Bedingungen in die entscheidende zweite Runde der diesjährigen Präsidentschaftswahl einzuziehen. Anders als damals ereignet sich dies in keiner Weise überraschend, sondern es war seit Monaten als nahezu feststehende Gewissheit erwartet worden. Und während am späten Abend des 21. April 2002 – das Datum des damaligen Wahlsonntag wurde später zum festen Ausdruck in der französischen Politik – spontan Zehntausende Menschen mit grünen Sonnenblumen, Jungsozialistenflaggen, roten Fahnen oder schnell gemalten Schildern auf der Pariser place de la Bastille standen, blieb dieses Mal der massenhafte Protest zunächst aus. Es fehlte vor allem am Überraschungseffekt, aus dem sich vor fünfzehn Jahre die spontane Wut zum Teil erklären ließ.

Am selben Ort demonstrierten am 23. April 2017 – dem ersten Wahlsonntag – rund 300 Menschen aus dem harten Kern der autonomen Szene. Allerdings stellten sie die beiden Stichwahlkandidaten Emmanuel Macron und Marine Le Pen in ihrer Ablehnung vollkommen auf eine Stufe. Teilnehmer des großspurig als „Nacht der Barrikaden“ angekündigten Protests beschimpften Gäste auf einer Caféterrasse: „Der Bänker hat gewonnen, na, na, seid Ihr jetzt zufrieden?“, was sich auf Macron bezog, und beschädigten Glasscheiben. Am selben Abend in Nantes und später in Rennes gingen ebenfalls Autonome auf die Straße, es kam insgesamt zu einigen Dutzend Festnahmen. Mittlerweile kursieren aus derselben Szene in Onlinemedien Folter- und Misshandlungsvorwürfe gegen die Polizei wegen der Ereignisse auf Pariser Wachen in der Wahlnacht.

Stärker spezifisch gegen Marine Le Pen gerichtet ist dagegen die Ablehnung aus den Kreisen von Gewerkschaften sowie von antirassistischen und Menschenrechtsverbänden. Ihr Protest blieb in der ersten Woche noch verhalten, die stark institutionalisierte Organisation SOS Racisme konnte wenige Hundert Menschen mobilisieren. Die Veranstaltungen am 1. Mai dieses Jahres fielen allerdings nicht überdimensioniert groß aus; so nahmen an den gewerkschaftlichen Maidemonstrationen laut Innenministerium 180.000, laut Veranstaltern 280.000 Menschen teil. In Paris kam es zu militanten Auseinandersetzungen zwischen Linksradikalen und der Polizei. Einige der Parolen richteten sich direkt gegen den FN, andere deckten die normalen Gewerkschaftsthemen ab. Am 1. Mai 2002 gingen allerdings zwei Millionen Menschen gegen Jean-Marie Le Pen auf die Straßen.

Der bedeutendste Unterschied jedoch, der die Entwicklung in diesem Frühjahr zwar wohl nicht zur Tragödie im Wortsinn werden lässt – in der griechischen Tragödie des Altertums gibt es im Prinzip keinen Schuldigen und im Grunde lauter Opfer –, wohl aber deutlich schlimmer erscheinen lässt als jene von 2002, liegt in den Wahlchancen der neofaschistischen Politikerin.

Zwar ist es „unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich“, dass Marine Le Pen am kommenden Sonntag, den 07. Mai 17 wirklich gewählt wird, wie einige Beobachter es mittlerweile formulieren – der Politikwissenschaftler Guillaume Bernard drückte es bereits im Februar dieses Jahres so aus. Doch auch eine FN-Kandidatin, die mit vielleicht 45 Prozent der Stimmen in der Stichwahl abschnitte, würde für die Zukunft einen ungleich gewichtigeren politischen Faktor darstellen, als ihre Partei dies bisher zu sein vermochte.

Ein erster Ausblick

Als Jacques Chirac im Mai 2002 mit 82,3 Prozent der Stimmen gegen ihren Vater wiedergewählt worden war, fiel Jean-Marie Le Pen für mehrere Jahre quasi ins Abseits der öffentlichen Wahrnehmung. Dies dürfte dem FN in den kommenden Monaten nicht widerfahren. Zumal auf die zweite Runde der Präsidentschaftswahl dann, am 11. und 18. Juni 2017, noch die französischen Parlamentswahlen folgen werden. Bislang verhielt es sich dabei üblicherweise so, dass die Wahlberechtigten kurze Zeit nach der Wahl eines neuen Staatsoberhaupts dieses auch regieren ließen, indem sie ihm respektive seiner Partei eine Mehrheit in der Nationalversammlung verschafften. In diesem Jahr könnten sich die Dinge jedoch anders verhalten.

Macrons im April 2016 gegründete Kleinpartei En Marche („In Bewegung“, „Vorwärts“) stellt keine fest strukturierte politische Kraft dar. Zwar erhielt sie 20.000 Bewerbungen von Leuten, die sich bereit erklärten, in einem der 577 Wahlkreise für En Marche zur Parlamentswahl zu kandidieren. Unter ihnen dürfte sich jedoch eine Masse an Abenteurerinnen, Glücksrittern, Karrieristinnen und Querulanten befinden. Zieht man diese Personengruppe ab, dann wird die Parteiführung letztendlich die Wahl haben, entweder politisch unerfahrene Bewerberinnen und Bewerber aufzustellen oder aber abgehalfterte Politgrößen aus den etablierten Parteien – der bei der Präsidentschaftswahl gescheiterten Sozialdemokratie und den Konservativen – zu „recyceln“, wie es bereits jetzt vielfach beschrieben wird. Die Leitung der Kleinpartei, die wie in einem Unternehmen als „Aufsichtsrat“ bezeichnet wird und bislang die potenziellen Kandidaten zu einem nur wenige Minuten dauernden „Casting“ wie bei einem Filmprojekt empfing, wird wohl einen Mittelweg suchen. Das Ganze dürfte sich jedoch auf Dauer als instabil erweisen.

Sowohl Politiker vom rechten Flügel der Sozialdemokratie, wie Ex-Premierminister Manuel Valls, als auch aus den Reihen der gemäßigten Konservativen könnten im Falle der Wahl Macrons ins Präsidentenamt unter ihm mitregieren. Der konservative Ex-Minister François Baroin etwa brachte sich für den Posten des Regierungschefs ins Gespräch. Aber auch die frühere Chefin des Arbeitgeberverbands MEDEF, Laurence Parisot, zeigte deutlich Ambitionen für dieses Amt unter einem Präsidenten Macron, woraufhin sie durch dessen Umgebung gebremst werden musste: Die Auswirkung einer solchen Personalentscheidung auf die öffentliche Meinung könnte fatal ausfallen. Zumal wenn Macron, wie angekündigt, schon im Sommer dieses Jahres das französische Arbeitsrecht mit der Brechstange „reformieren“ möchte – auf dem Verordnungsweg, also unter Umgehung des Parlaments. Nachdem bereits der rechtssozialdemokratische Premierminister Manuel Valls die vorige „Reform“ des Arbeitsrechts, also das am 08. August 2016 in Kraft getretene „Arbeitsgesetz“, quasi unter Ausschaltung des Parlaments durchsetzte (auf der Grundlage von Artikel 49-3 der Verfassung, der beim Aufwerfen der Vertrauensfrage die Sachdebatte zu einem Gesetzestext abbrechen lässt).

Wenn jedoch bei den Konservativen wie bei den Trümmern des Parti Socialiste (PS) Fraktionen ausscheren, um sich einer Umgruppierung unter Macron anzuschließen, dann könnte umgekehrt ein Teil der bürgerlichen Rechten stärker als bisher in Richtung Front National driften. Ein solches erklärtes oder unerklärtes Bündnis könnte aber unter Umständen mehrheitsfähig sein oder jedenfalls in einem Parlament, das eventuell von instabilen wechselnden Mehrheiten gekennzeichnet sein wird, eine wichtige Rolle spielen.

Wer ist Emmanuel Macron?
Doch wer ist nun aber dieser Emmanuel Macron?

Einiges Kopfkratzen bei manchen Zeitungsleserinnen und -lesern löste der 39jährige Kandidat aus, als er im Februar dieses Jahres in einem Interview mit der Sonntagszeitung JDD von einer “dimension christique” in der Politik und im Wahlkampf, also sinngemäß von einer „christusähnlichen“ oder „christusgleichen Dimension“. Hätte er lediglich eine „christliche“ Politik oder Orientierung gemeint, dann hätte das korrekte Adjektiv dazu eher chrétienne gelautet.

Wörtlich sagte Macron damals unter anderem:

„Die Politik ist Mystik. (…) Darin besteht mein ganzer Kampf. Es ist ein Irrtum zu glauben, dass das Programm im Kernstück einer Wahlkampagne steht.“ Damit meinte er, vielmehr habe die Verkörperung einer Idee durch eine Person im Mittelpunkt zu stehen. Womit wir wieder beim Christus wären. Denn Macron erklärte ferner: „Ich habe mich stets zu dieser Dimension der Vertikalität“ – was ungefähr so viel bedeutet, dass das Gute von oben kommt; sei es nun vom Himmel, oder auch vom Präsidentenamt aus über das Volk – „und der Transzendenz bekannt, aber gleichzeitig muss sie auch in der Immanenz, in der materiellen Gegenwart verkörpert sein. (…) Diese < dimension christique >, ich leugne sie nicht; ich fordere sie auch nicht ein. Ich versuche nicht, ein Christusprediger zu sein.“

Ja, zu solchen Worthülsen ist der Mann fähig, der relativ gute Chancen zu haben scheint, der nächste französische Präsident zu werden – und den auch Teile der deutschen etablierten Presse geradezu als Heilsbringer darstellen, insbesondere, weil er betont EU-freundlich auftritt.

Nein, keine Sorge, der Mann ist nicht verrückt und bestimmt auch kein religiöser Fanatiker. Auch ein Guru oder ein Möchte-Gern-Führer ist er nicht, sondern lediglich ein bürgerlicher Politiker und vormaliger Mitarbeiter des Finanzkapitals – Investmentbanker -, der dem „Spektakel“ der Politik (im Sinne von Guy Debord) eine neue Dimension verleiht. Die oben zitierten, leicht entrückt wirkenden Ausführungen erklären sich einerseits aus einer sehr stark personenzentrierten Berichterstattung über ihn in den französischen Leitmedien. Diese sind es, die seit Monaten die Inhalte herausnehmen und sich weitgehend auf die Persönlichkeit des jungen Aufstrebenden konzentrieren. Zum Anderen hat Macron selbst diese Steilvorlage genutzt, eben um möglichst nicht allzu viel über Programme und Inhalte reden zu müssen – wie daraufhin dann auch wiederum in den Medien angemerkt wurde. Einige seiner politischen Gegner oder Konkurrenten monierten dies. Und der rechtskonservative Abgeordnete Eric Ciotti behauptete gar, dieses Auftreten mache ihm „Angst“, was freilich auch eher eine Wahlkampftaktik denn erst gemeint sein dürfte. Im Internet sprachen kritische Stimmen gar von einem Rückfall in die Politik vor der Neuzeit …

Dabei stammt der Ausdruck von der Christusfigur in der Politik gar nicht von Emmanuel Macron selbst. Vielmehr wurde er bereits im Dezember vergangenen Jahres in einem Kommentar beim TV-Sender LCI (La chaîne info) benutzt, nachdem Emmanuel Macron am Vorabend – es war der 10. Dezember – seine erste Großveranstaltung mit rund 10.000 Menschen in Paris abhielt. Dabei hatte Macron in den letzten Minuten seiner Rede die Arme vor der Brust gekreuzt, sich in die Pose eines Retters geworfen und – mit äußerst heisern gewordener Stimme – buchstäblich herausgeschrien:

„Eure Verantwortung ist, überall in Frankreich hinzugehen, um dieses Programm (hin) zu tragen. Und um zu gewinnen. Was ich will, ist, dass Ihr, überall, es gewinnen lässt. Weil es unser Programm ist!“

Das hörte sich tatsächlich ein bisschen an wie eine Mischung aus „Tragt Euer Kreuz“ und „Bringt die frohe Botschaft in alle Lande“ … Weihnachten und Ostern an einem Tag?

Emmanuel Macron ist kein entrückt-religiöser Spinner, mit Gewissheit nicht. Er gelangte zu der Auffassung, Politik fühle sich eben so oder so ähnlich an. Das ist auch kein Wunder, wenn man wie eine Heils- und Lichtgestalt quer durch viele etablierte Medien durchgereicht wird. In einem starken halben Jahr – seitdem Macron Ende August 2016 seine Kandidatur zur französischen Präsidentschaftswahl verkündete, will sagen: bekannt gab – widmeten Printmedien ihm sage und schreibe 75 Titelseiten.

Dabei geht es oft sehr weitgehend inhaltsfrei zu. Besonders beliebt sind Titel zu Macron in der nicht nur inhalts-, sondern oftmals auch intellektfreien Regenbogenpresse. Diese schlachtet gerne Emmanuel Macrons Privatleben aus: Seine Ehe mit der 24 Jahre älteren Brigitte Macron (geboren Trogneux), seiner früheren Französischlehrerin, stellt immer wieder ein beliebtes Thema dar. Einerseits wird Macron dabei immer und wieder als Traumschwiegersohn französischer Eltern dargestellt, andererseits gibt der Altersunterschied immer wieder unterschwellig zu gewissen Spekulationen Anlass. Die trockene Wahrheit ist, dass es nicht unwahrscheinlich ist, dass Macron im Falle seiner Wahl der erste schwule Staatspräsident Frankreichs würde.

Im Prinzip geht das wirklich nur ihn allein etwas an. Sein, reales oder vordergründiges, Eheleben verleiht ihm jedoch einerseits eine extrem starke Medienpräsenz. Andererseits wird Macrons mutmaßliche Homo- oder Bisexualität aber unterschwellig auch zum Gegenstand von rechts her kommender, ressentimentgeladener Kampagnen erhoben. Er sah sich bereits gezwungen, auf solche Gerüchte zu antworten. Auch konservative Abgeordnete (wie Nicolas Dhuicq im Februar d.J.) versuchten bereits, deutlich mit Ressentiments zum Thema zu spielen.

Doch „wer“ ist Emmanuel Macron ansonsten? Die linksliberale Pariser Abendzeitung Le Monde – bei welcher Macron nicht weniger Unterstützer/innen zählt – kürte ihn im Spätsommer 2016 zum „Intellektuellen in der Politik“, wenn auch noch mit Fragezeichen versehen. In anderen Medien war er bereits vor Jahren zum „Philosophen in der Politik“ ernannt worden. Tatsächlich hat Macron einmal Philosophie studiert, bevor er eine Bänkerkarriere einschlug. An seiner Darstellung als Denker und Philosoph gibt es jedoch wiederum heftige Kritik aus Intellektuellenkreisen.

Seine berufliche Hauptkarriere absolvierte Macron später bei der Bank Rothschild, bevor er im Jahr 2012 zum – damals der Öffentlichkeit weitgehend unbekannten – Berater des frisch gewählten Präsidenten François Hollande im Elyséepalast wurde. Von August 2014 bis zu seinem Rücktritt im August 2016 amtierte er dann als Wirtschaftsminister; zu jener Zeit war er bereits Millionär geworden. In diese Amtszeit fällt die Ausarbeitung des als Loi Macron bekannt gewordenen, am 06. August 2015 in Kraft getretenen Gesetzestextes.

Dieses Kraut-und-Rüben-Gesetzeswerk enthält eine Reihe von Flexibilisierungsmaßen, es erleichtert in einigen Sektoren erheblich die Sonntagsarbeit. Und mit den ebenfalls nach ihm benannten Cars Macron schuf es das französische Pendant zu den Flixbussen, das nun der französischen Bahn Konkurrenz bereitet. Das Gesetz begünstigt auch Unternehmen wie Uber, die den NutzerInnen neue Transportmöglichkeiten im Transportbereich verschaffen, aber auch ein „schönes“ neues Arbeitsleben mit Scheinselbständigkeit und ohne soziale Absicherung versprechen.

Seine ersten Schritte in der etablierten Politik unternahm Macron, damals noch als Geschäftsbanker, allerdings im Jahr 2008. Pläne für eine Kandidatur zu den Kommunalwahlen im Frühjahr jenes Jahres hatte er aufgegeben. Doch der damals erst 30jährige wurde im selben Jahr von Jacques Attali entdeckt, einem mondänen Vordenker der französischen Eliten und ehemaligen Berater von Präsident François Mitterrand, der unter seinem Nachfolger Nicolas Sarkozy mit der Leitung eine „Zukunftskommission“ beauftragt worden war. Der junge Emmanuel Macron wurde zu ihrem „Vizeberichterstatter“ eingesetzt. Die Kommission unterbreitete 316 Vorschläge dafür, wie Frankreich auf möglichst kapitalkompatible Weise „zukunftsfähig“ gestaltet, sprich: durch eine ordentliche Portion Reformterror durchmodernisiert werden solle. So sollte etwa das geltende Umweltrecht als Wachstumshindernis entsorgt (allerdings auch neue „Ökostädte“ aus dem Boden gestampft), das Bildungswesen sollte umgekrempelt und die „Kosten der Arbeit“ sollten drastisch gesenkt werden.

Dies alles kam dem Konservativ-Wirtschaftsliberalen Nicolas Sarkozy sehr zupass, und der von 2007 bis 2012 amtierende Präsident zeigte sich bemüht, zumindest eine Reihe der Vorschläge aus der Kommission umzusetzen. Doch auch dessen sozialdemokratischer Nachfolger François Hollande trat in die Fußstapfen ebendieser Politik. Macrons Ernennung zum Wirtschaftsminister im Hochsommer 2014 erfolgte just, um die Kapitalverbände über die Absichten der sozialdemokratischen Regierung zu beruhigen. Sie erfolgte zur selben Zeit, als der damalige Premierminister Manuel Valls – inhaltlich in Sachen Wirtschaftspolitik auf einer Wellenlänge mit Macron, jedoch auch sein großer persönlich-politischer Rivale – auf einer Tagung des Unternehmerverbands MEDEF seine Liebeserklärung an das Kapital verkündete: J’aime l’entreprise.

Ein Wiedergänger von Nicolas Sarkozy als Präsidentschaftskandidat ist Macron schon deswegen nicht, weil – jenseits der sozialdemokratisch klingenden Wahlkampfreden aus dem Jahr 2012 – Hollande im Kern dieselbe Politik fortsetzte. Und dies mit Macron an seiner Seite. Dies gilt jedenfalls für die Themen der Sozial- und Wirtschaftspolitik.

Auf anderen Politikfeldern hingegen setzt Macron sich doch deutlich von den Vorgaben Nicolas Sarkozys ab, der in seiner Zeit als Wahlkämpfer und als Präsident etliche symbolpolitische Gesten an die Wählerschaft der extremen Rechten richtete – wie die Einrichtung eines „Ministeriums für Einwanderung und nationale Identität“ (das 2007 begründet und 2011 wieder abgeschafft wurde).

Emmanuel Macron ist dagegen der Mann, der in allererste Linie für die Idee einer „glücklichen Globalisierung“ steht, die angeblich ohne größere soziale Widersprüche auskommt – was man in Zeiten des Neoliberalismus für ein lustiges Gerücht halten darf -, aber auch für Toleranz- und Weltoffenheitsversprechen steht. Macron dürften in erster Linie diejenigen wählen, vor allem in den jüngeren und mittleren Generationen, die das Interesse und/oder die Mittel dazu haben, zu reisen, dank Erasmus-Programmen im europäischen Ausland zu studieren oder multikulturell-kulinarisch zu speisen. Er findet selbstverständlich Anklang bei „exportorientierten“ Unternehmern, leitenden Angestellten und sonstigen so genannten Leistungsträgern. Dass er seine Rede zu Beginn des Osterwochendes vor Start Up-Gründern hielt, ist insofern kein Zufall.

Einer der Haken dabei ist – jenseits aller sozialen Verteilungsfragen -, dass dieses Profil die schlechter gestellten oder sich abgehängt fühlenden Teile der Gesellschaft eher verängstigt denn ermutigt. Diese werden dadurch erst recht in die Arme von rechten Unheilspropheten getrieben, die ihrerseits wie der Front National verkünden, eine Polarisierung zwischen ihren Vorstellungen und denen Macrons komme ihnen besonders zupass: Dem „Globalisten“ par excellence stünden die „eingewurzelten“ Nationalisten gegenüber.

Immerhin, ja, es stimmt: Emmanuel Macron ist wenigstens kein Nationalist und dezidiert kein Rassist. In seiner Rede in Marseille vom 1. April 17 etwa rief Macron in den Saal: „Sind Armenier da? Sind Komorer im Raum?“ – aus historischen Gründen handelt es sich um zwei der wichtigsten Einwanderergruppen in der Mittelmeerstadt, die Armenier trafen dort etwa nach dem Völkermord in der Türkei nach dem Ersten Weltkrieg ein. In der Folge deklinierten Macron sein Fragespiel mit einer Reihe von Einwanderergruppen durch (Sind Italiener im Saal?, Algerier, Marokkaner, Tunesier..?). Um damit zu enden: „Und was sehe ich? Ich sehe Marseiller! Was sehe ich? Alle sind Marseiller!“ Das nervte nicht nur Stimmen auf rechtsextremen Webseiten erheblich, die ihn gar prompt als „antifranzösischen Kandidaten“ einstuften. Es unterscheidet Macron auch erheblich von bestimmte Konservativen: Deren damaliger Innenminister unter Sarkozy, Claude Guéant (inzwischen aus anderen Gründen zu Gefängnis verurteilt), hetzte etwa im Wahlkampf 2011/12 pauschal gegen die Komorer in Marseille als eine Community, die „für viel Gewalt ursächlich“ sei.

In sozialer Hinsicht hingegen präsentiert Macron dort, wo er sich überhaupt konkret äußert, zwar mitunter durchaus attraktive Argumente. So schlägt der Kandidat vor, anders als bisher sollten auch abhängig Beschäftigte, die ihr Beschäftigungsverhältnis selbst kündigen – und nicht allein, wie bisher, entlassene Lohnabhängige – sowie Selbständige einen Unterstützungsanspruch gegenüber der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung aufweisen. Das wäre eine erhebliche Erleichterung (im Vergleich zum heutigen Zustand) etwa für Lohnabhängige, die es an ihrem derzeitigen Arbeitsplatz kaum noch aushalten, deren Chef ihnen jedoch nicht den „Gefallen“ einer Kündigung tun will.

Dahinter steckt allerdings die strategische Absicht, das gesamte Sozialversicherungssystem radikal umzubauen. Und zwar weg von einer Beitragsfinanzierung, aufgrund derer die Gewerkschaften eine Mitsprache – im Namen der Arbeitnehmer/innen – in den Vorständen der Sozialkassen ausüben, und hin zu einer Steuerfinanzierung. Letztere brächte es jedoch mit sich, dass der Staat alljährlich über die Höhe von Leistungen etwa der Kranken- und Arbeitslosenversicherung quasi frei entscheiden könnte. Es wäre also mit erheblichen Einschränkungen zu rechnen. Hinzu kommt ein weiterer Haken: Wer als erwerblos Gemeldete/r zwei Jobangebote ausschlägt, soll jeglichen Anspruch auf Arbeitslosenhilfe verlieren.

Verständlich wird dadurch, warum Macron es oft lieber vermeidet, über Programme zu reden und sich in der Öffentlichkeit inhaltlich festzulegen…

Das größere Übel

Trotz allem, was es über Macron insgesamt zu sagen gibt – es existiert dennoch ein eindeutig, unzweifelhaft, unverkennbar größeres Übel, und zwar in Gestalt des Front National. Denn Macron ist nur eine von vielen Charaktermasken des neoliberal durchstrukturierten Kapitalismus; die von ihm verfolgte Politik wurde – im Wirtschafts- und Sozialbereich – im Kern ähnlich auch unter Nicolas Sarkozy oder durch Manuel Valls (Premierminister 2014 bis 16) betrieben. Nur die Form des Spektakels drumherum verändert sich durch Macrons Auftreten. Die bürgerliche Demokratie, zu deren Normalfunktionen es gehört, dem Kapital möglichst optimale oder jedenfalls aus seiner Sicht akzeptable Ausbeutungsbedingungen im „soziale Frieden“ zu garantieren, ist eben nicht identisch mit dem Faschismus in seinen unterschiedlichen Ausformungen.

Beim Front National handelt es sich dagegen um eine Partei, die direkt aus dem europäischen Nachkriegsfaschismus kommt – ihr Symbol, die züngelnde Flammen in den drei Nationalfarben blau-weiß-rot hat die Partei bei ihrer Gründung 1972 direkt aus dem italienischen Neofaschismus (dort grün-weiß-rot) übernommen, von dem auch das Geld, die Logistik und das Know-How für den Aufbau der Struktur des noch jungen Front National kamen. Denn zu jener Zeit erfolgte die Parteigründung nicht aus einer Position der Stärke heraus, sondern in einer Schwächephase der französischen extremen Rechten (nach der Entkolonialisierung und dem Mai 1968), als es darum ging, das verbliebene Aktivistenpotenzial zusammenzuhalten. In der Mythologie des italienischen Neofaschismus steht die züngelnde Flamme für das Weiterleben der Bewegung, und konkret als Wahrzeichen für den Aufstieg der Seele Benito Mussolinis in den Himmel. In Italien wird die dreifarbige Flamme derzeit nur noch von Splittergruppen als ihr Symbol benutzt, in Frankreich bleibt sie dasjenige des Front National.

Dessen Einstufung als „(rechts)populistisch“ in einem Großteil der deutschsprachigen Medien ist in den Bereich des sprachlichen Unfugs zu verweisen: Eine solche Unsinnsbezeichnung verschleiert nur, anstatt zu benennen.

Ein Hauch von Nazismus liegt unterdessen noch immer in der Luft, wenn manche Protagonisten des FN sich zu Wort melden, auch wenn die Parteiführung tunlichst bemüht ist, einen an die bürgerliche Demokratie angepassten Eindruck zu erwecken. Denn immer wieder werden Risse in dem Bild sichtbar, das die Parteiführung dabei zu malen versucht – und das in der gesamten Medienlandschaft unter dem (durch Marine Le Pen selbst mit geprägten) Begriff der „Entdiabolisierung“ diskutiert wird, welcher mal mit kritischer oder ironischer Distanz und mal eher apologetisch benutzt wird. So flog am 15. März d.J. der Holocaustleugner Benoît Loeuillet, Regionalparlamentarier des FN und Buchhändler in Nizza, infolge einer Fernsehsendung auf – er wurde prompt von den Mitgliedsrechten suspendiert. Und am 28. April 2017 musste der Front National in Windeseilen seinen Interimsvorsitzenden Jean-François Jalkh absetzen, der den Parteivorsitz zwei Tage vorher von Marine Le Pen – die ihn für die Dauer der Wahlperiode niederlegte – übernommen hatte. Ein Journalist der katholischen Zeitung La Croix hatte ein Zitat von Jalkh – Mitglied des FN seit 1974, also zum Urgestein der Partei gehörend – aus dem April 2000 aufgefunden. Darin behauptet er, Massenvergasungen in den nationalsozialistischen Lagern habe es nicht geben können, weil die Belüftungstechnik dies nicht zugelassen hätte. So sieht der harte Kern dieser Partei aus.

Vor allem aber ist er der informelle innere Führungszirkel, der aus der rechtsextremen Studierendenvereinigung GUD (Groupe Union Défense) kommt und über ein Netzwerk von Unternehmen de facto die Parteifinanzen kontrolliert, in dem sich offene Nazisympathien wiederfinden. Zu ihm zählen Frederic Chatillon und Axel Loustau. Parteigrößen wie der Abgeordnete Gilbert Collard (er behauptete Anfang März 17, Chatillon „fast nicht zu kennen“, und jener spiele faktisch keine Rolle) versuchten wiederholt, deren Rolle herunterzuspielen. Doch dann kam heraus, dass Chatillon seit Anfang November 2016 als bezahlter Hauptamtlicher der FN-Wahlkampagne eingestellt worden ist. Und eine Recherche der Medien Marianne und Mediapart förderte im März und Anfang April 2017 zu Tage, dass sein Kumpan Axel Loustau Facebookseiten unter einem halben Dutzend Pseudonymen führt, welche ihm jedoch unzweifelhaft zugeordnet werden können. Auf ihnen sieht man Loustau etwa Hakenkreuze in einen Teller Reis zeichnen oder sein Geburtsdatum ironisch mit „20. April“ angeben, was jeweils eine Reihe von anzüglichen Kommentaren hervorrief. Der Gedanke an „Entdiabolisierung“ – wie Marine Le Pen ihre Strategie des Bemühens um einen politischen Persilschein bezeichnet – stößt sich also immer wieder an der Wirklichkeit…

Die Stichwahl

Aus Sicht der beiden Personen, die nun als Präsidentschaftsbewerber respektive –bewerberin in die Endrunde kamen – Emmanuel Macron mit 23,9 und Marine Le Pen mit 21,4 Prozent der abgegebenen Stimmen in der erste Runde, bei einer Wahlenthaltung in Höhe von rund 23 Prozent – stellt die nunmehr eingetretene Konstellation jeweils die günstigste da. Beide halten die politisch-ideologische Konfiguration für optimal. Aus Sicht des Liberalen Emmanuel Macron stellt sie die Kräfte der „offenen Gesellschaft“, zu der die Bewegungsfreiheit des Kapitals und der Abbau von „Barrieren“ wie Arbeitsrecht oder „starren Regelungen“ ebenso wie eine gewisse interkulturelle Toleranz gehören, denen des Rückzugs auf nationale Grenzen gegenüber. Allerdings tritt Macron – neben einem Plädoyer für multikulturelles Zusammenleben – in seinem Programm auch für eine Verstärkung der Außengrenzen der Europäischen Union ein, wofür unter anderem 5.000 Grenzpolizisten speziell rekrutiert werden sollen. Macrons Kernwählerschaft besteht aus Menschen, die ihre Eramus-Studienerfahrungen für den Inbegriff des weltweiten Prozesses der kapitalistischen „Globalisierung“ halten, aus Jungunternehmern und Start Up-Gründern, aber auch aus Personen, die ihre politische Meinung aus dem Fernsehen und der Lektüre der Regenbogenpresse beziehen.

Auch aus Sicht von Marine Le Pen ist die Konstellation optimal. Aus ihrer Sicht wiederum – die einfach die Vorzeichen gegenüber der Wahrnehmung der Macron-Anhänger umkehrt – stellt sie die Kräfte einer zerstörerischen Globalisierung und seelen-, da grenzenlosen Welt denen des „eingewurzelten Patriotismus“ und der unterschiedlichen nationalen Identitäten entgegen.

Im Lager des Linkssozialdemokraten und Linksnationalisten Jean-Luc Mélenchon – er wurde mit 19,6 Prozent im ersten Wahldurchgang Vierter – tendieren laut Zahlen von Le Monde über fünfzig und bis zu 62 Prozent der Wählerinnen zu Macron, und je nach Umfrage zwischen neun und zwanzig Prozent zu Le Pen. Allerdings gibt es in der Arbeiterwählerschaft Mélenchons stärkere Widerstände gegen eine Unterstützung für den wirtschaftsliberalen Kandidaten Emmanuel Macron. Der gescheiterte Kandidat Mélenchon selbst weigerte sich bislang, eine Stimmempfehlung abzugeben. Er begnügte sich seit dem Wahlabend mit dem Hinweis, 450.000 Personen, die sich auf seiner Webseite als Unterstützerinnen und Unterstützer registrierten, dürften nun ihre Meinung äußern. Auf elektronischem Wege solle sie über die vorhandenen Optionen abstimmen – einen Wahlaufruf zugunsten Macrons, einen Appell zur Enthaltung, zum Ungültigstimmen oder gar keine Aussage. Nur eine Unterstützung Le Pens wird nicht in Betracht gezogen. Die Ergebnisse wurden am 02. Mai publiziert; eine relative Mehrheit von 36,1 Prozent tritt demnach für Ungültigwählen ein, 34,8 Prozent favorisieren die Idee, den Macron-Stimmzettel als „Damm“ gegen den Front National zu benutzen, und 29,1 Prozent unterstützen die Forderung nach Stimmenthaltung. Erstmals erklärte am 24. April eine vermeintlich linke Stimme, die neostalinistische Webseite Canempechepasnicolas – die bislang Mélenchon „kritisch unterstützte“, ihm jedoch einen mangelnden EU-Austrittswillen vorwarf – Macron zum größeren und Le Pen zum kleineren Übel. Es gibt also keinen Irrsinn, der groß genug und wahnsinnig genug wäre, dass er nicht auch noch Anhängerinnen und Anhänger fände.

Marine Le Pen und der FN buhlen ihrerseits nunmehr auf betonte Weise um die vormaligen Mélenchon-Wähler. Aus der rechtsextremen Partei wurde dazu ein eigenes Flugblatt in Umlauf gebracht, das die vermeintlichen „gemeinsamen Punkte“ zwischen beiden Kandidaten – wie sozialpolitische Formulierungen oder die Forderung nach NATO-Austritt – unterstreicht. Auch Philippot strich den Wählerinnen und Wählern des Linkskandidaten in seinem Rundfunkinterview erkennbar Honig um den Mund. Gleichzeitig kopierte Marine Le Pen aber bei ihrer letzten Großveranstaltung vor der Stichwahl, am Nachmittag des 1. Mai 2017, ganze Redepassagen aus einer Ansprache von François Fillon zum Thema der „französischen Identität“ übernahm, welche der damalige konservative Kandidat Mitte April in Puy-en-Valay hielt. In anderen Redetexten wiederum machte sich Le Pen manche Sprachelemente von Mélenchon zu eigen: Wie er sprach sie nunmehr von der „Oligarchie“, die „dem Volk“ gegen über stehe (früher sprach auch Mélenchon eher noch von sozialen Klassen, Marine Le Pen hingegen von „der Kaste“ gegen „das Volk“). Wie er bezeichnete sie sich wörtlich als insoumise, also als „nicht Unterworfene“ oder Aufsässige. Und am 30. April übernahm Le Pen bei einem Besuch im südfranzösischen Gardanne, wo eine Alumiumfabrik immense Umweltprobleme aufwirft, Mélenchons langjährige Forderung nach „ökologischer Wirtschaftsplanung“ (planification écologique). Ihre Demagogie lässt sie sowohl auf der Linken als auch auf der konservativen Rechten jeweils Diskurselemente abgreifen.

Wie eingangs erwähnt: Es ist „unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich“, dass Marine Le Pen am kommenden Sonntag, den 07. Mai wirklich gewählt wird. Doch sollte ihr je ein Wahlsieg zufallen, wäre dies fraglos ein vollkommenes Desaster, das über einen „normalen“ bürgerlichen Wahlausgang weit hinausginge – unter anderem weil das französische Staatsoberhaupt Vollmachen besitzt, die absolut nicht mit denen eines deutschen Bundespräsidenten oder selbst einer Bundeskanzlerin zu vergleichen sind. Der Präsident oder die Präsidentin kann allein die Regierung entlassen und das Parlament vorzeitig auflösen, zumindest kurzfristig im Alleingang über Militäreinsätze entscheiden und in Krisenfällen nach Artikel 16 der Verfassung per Notverordnung regieren. Die Vollmachten gemäß Artikel 16 sind nur vage beschrieben. Sie gingen jedenfalls noch erheblich über die geltende Notstandsgebung, die seit dem 14. November 2015 um Mitternacht in Kraft ist, hinaus.

Unterdessen hat Marine Le Pen aus einem Teil der bürgerlichen Rechten Zulauf erhalten, vor allem durch die Unterstützungserklärung des EU-skeptischen Präsidentschaftskandidaten Nicolas Dupont-Aignan vom Freitag Abend. Er erhielt in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl 4,7 Prozent der abgegebenen Stimmen. Nein, Nicolas Dupont-Aignan ist kein Faschist. Doch Pierre Laval (eine Schlüsselfigur der französischen Kollaboration mit Nazideutschland, 1945 erschossen) war auch keiner, sondern ursprünglich ein Liberaler, und in der Folgezeit ein ebenso jämmerlicher wie hemmungsloser Karrierist.

Am 29. April 2017 unterzeichneten beide einen „Koalitionsvertrag“. Möglicherweise erlaubt dieses Dokument dem FN, dessen Forderung nach EU-Austritt bislang die Kapitelverbände hörbar gegen seinen Regierungseintritt plädieren ließ, doch noch die Quadratur des Kreises. Die rechtsextreme Partei bleibt bei ihrer Gegnerschaft zu EU und Euro, was einen Teil ihrer Basis mobilisiert. Im „Regierungsvertrag“ mit Dupont-Aignan, dem Le Pen im Falle ihres Wahlsiegs den Posten eines Premierministers verspricht, steht jedoch auch, ein Austritt aus dem Euro sei „nicht die Voraussetzung für jegliche Wirtschaftspolitik“, was andeutet, dass man diesen Rahmen vorläufig akzeptieren könne. Vielleicht lässt dies den FN doch noch in den Augen von Angehörigen der Elite „regierungsfähig“ erscheinen. Wenn nicht jetzt, dann vielleicht in zwei, drei oder fünf Jahren, wenn die Präsidentschaft Macrons – die sich in Ermangelung einer hinter ihm strukturierten Partei als fragil erweisen könnte – sich abgenutzt haben wird.

Letzte Meldung: 48 Stunden vor dem Stichwahlgang war das Rennen laut Beobachtungen des Verfassers gelaufen. Marine Le Pen hatte sich in in den Tagen zuvor abgenutzt, und insbesondere in der mit viel Spannung erwarteten TV-Debatte mit Gegenkandidat Emmanuel Macron am Abend des 3. Mai in gewisser Weise ,verbrannt’. Statt als souveräne ,Staatsfrau’ oder auch wortmächtige Herausforderin, die den Kandidaten des Establishments in die Defensive redet, erschien sie als aggressive und zugleich in Sachfragen eher inkompetente Kläfferin. In ihrem eigenen Lager mehrten sich kurz darauf die unzufriedenen Stimmen. Am 4. Mai in der Bretagne und am 5. Mai in der Kathedrale von Reims wurde Marine Le Pen mit Eiern empfangen, was nicht nur schlecht fürs Image ist, sondern auch ihrem Autoritäts-Anspruch schadet. Mit ihrer Niederlage war also zu rechnen – jedenfalls für 2017.

Offener Brief: Keine faschistische Propaganda in Wuppertal!

Wir haben (bisher) keine Veranstaltung zum kroatischen Nationalismus und Faschismus geplant. Dennoch möchten wir an dieser Stelle einen Offenen Brief an die “perfekte Party-Location” (Eigenbeschreibung), den  Wuppertaler Club “Apollo 21″ und die Stadt Wuppertal (mit-) veröffentlichen. Im Club an der Kasinostraße in Wuppertal-Elberfeld ist nämlich für den 4. Juni ein Konzert mit dem kroatischen Fascho-Rocker „Thompson” geplant. Wir hoffen, dass der Offene Brief genügend Druck aufbauen kann, das geplante Treffen kroatischer Nationalisten und Faschisten in Wuppertal noch abzusagen.

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Keine faschistische Propaganda in Wuppertal!

Offener Brief zum geplanten Konzert der kroatischen Rockband „Thompson“
am 4.6.2017 im „Apollo 21“ in Wuppertal-Elberfeld

Durch einen Journalisten der Frankfurter Rundschau wurden wir auf einen geplanten Auftritt der kroatischen Rockband „Thompson“ am 4.6.2017 im Wuppertaler Club „Apollo 21“ (Kasinostraße) aufmerksam gemacht. Wir fordern die BesitzerInnen des Lokales auf, den mit der Agentur „HR-Events“ geschlossenen Vertrag zu kündigen und das Konzert abzusagen.

Hilfsweise fordern wir die Stadt Wuppertal und deren Ordnunsgbehörden auf, alles in ihrer Macht stehende zu unternehmen, das geplante „Thompson“-Konzert zu untersagen.

Die kroatische Rockband „Thompson“ um ihren Gründer und Frontmann Marko Perković ist europaweit für die Verherrlichung des kroatischen Faschismus und militärischer Aktionen kroatischer Milizen im so genannten „Kroatienkrieg“ von 1991 bis 1995 berüchtigt; der Name der Band bezieht sich auf das von Marko Perković im „Kroatienkrieg“ benutzte Gewehr. Für die Band gab und gibt es u.a. Auftrittsverbote in der Schweiz, in Istrien und den Niederlanden. Zuletzt wurden der Band Auftritte im österreichischen Kremsmünster (April 2017) und im slowenischen Maribor (Mai 2017) untersagt. Auch in Deutschland kam es bereits zu mehreren Absagen eines geplanten „Thompson“-Konzertes in Berlin 2014. Neben der während der „Thompson“-Konzerte im Mittelpunkt stehenden Unterstützung Marko Perkovićs für die vom ICTY (dem internationalen Kriegsverbrechertribunal) angeklagten kroatischen Generäle, wird vor allem die positive Bezugnahme der Band und ihrer Fans auf die faschistische Ustascha-Regierung Kroatiens im Zweiten Weltkrieg kritisiert. Der negative Höhepunkt der Verehrung des kroatischen Ustascha-Faschismus war der per Video dokumentierte Vortrag des Ustascha-Liedes „Jasenovac i Gradiška Stara“ während eines Konzertes der Band, das die Tötung von Juden und Serben im Vernichtungslager Jasenovac verherrlicht.

Konzerte der Band ziehen regelmäßig hunderte, wenn nicht tausende kroatische Nationalisten und Faschisten an, die zu den Auftritten trotz einer offiziell durch die Musiker geäußerten Bitte zum Verzicht auf faschistische Symbolik immer wieder auch Symbole der Ustascha oder der „Crna legija“ („Schwarze Legion“) tragen. Für das Konzert in Wuppertal wird NRW-weit im Internet auf kroatischen Facebook-Seiten für den Vorverkauf geworben. In Wuppertal wird der Vorverkauf durch einen „Intermerkur Weinhandel“ abgewickelt. Auch für das am 4. Juni geplante Konzert muss befürchtet werden, dass viele nationalistisch/ faschistische KroatInnen nach Wuppertal kommen werden.

Wir wenden uns entschieden gegen die Verharmlosung oder gar Verherrlichung der mit den Nationalsozialisten verbündeten kroatischen Ustascha in Wuppertal. Es kann nicht zugelassen werden, dass die in Jasenovac ermordeten Roma, Juden und Serben bei einer Konzertveranstaltung verhöhnt werden. Im KZ Jasenovac, dem einzigen Vernichtungslager in dem ohne deutsche Beteiligung gemordet wurde, wurden bis zu 90.000 Menschen von kroatischen Faschisten ermordet. Gleichzeitig finden wir es unerträglich, dass in einer Stadt, in der vor dem Krieg exilierte Bosnier, Sloweninnen, Serben und Kroatinnen seit Jahrzehnten zusammenleben, durch die positive Bezugnahme auf kroatische Kriegsgreuel in den neunziger Jahren ein nationalistisches Feuer geschürt werden soll, dass während der „Balkankriege“ über 100.000 Menschen das Leben gekostet hat.

Das geplante „Thompson“-Konzert in Wuppertal darf nicht stattfinden!

so_ko_wpt – soli-komitee wuppertal
Wuppertaler Initiative für Demokratie und Toleranz e.V.
Kurdischer Kulturverein BIRATI e.V:
Kreisverband Die LINKE Wuppertal
Tacheles e.V. Sozialhilfe und Erwerbslosenverein
Linkes Forum (LF) in Wuppertal
welcome2wuppertal (w2wtal)
Regionalbüro Arbeit und Leben DGB/VHS Berg-Mark
VVN-BdA Wuppertal
Deutsche Kommunistische Partei (DKP)
kein mensch ist illegal wuppertal
Fem_Kollektiv_Wuppertal

Eisbrecher Wuppertal
Sonja Kies
Ludger Pilgram

Wuppertal, den 23. Mai 2017

Weblinks:
Ankündigung und Vorverkaufsstellen für das Konzert (de.eventbu.com)
Wikipedia-Eintrag zur Band „Thompson”
Recherche & Aktion Berlin im Vorfeld der Konzertabsagen 2014

Offener Brief 4.6 (Download als pdf-Datei)

13.574 WuppertalerInnen wählen rechts.

Im Nachgang der dazwischen geschobenen Veranstaltung zum Umgang der radikalen Linken mit den diesjährigen Wahlen am 2. Mai mit Bernhard Sander (die LINKE) im Café Stil Bruch, haben wir uns ein wenig mit den Ergebnissen der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen beschäftigt.

Ein Haufen Zahlen aus Wuppertal

Unabhängig vom Verhältnis der radikalen Linken zum Parlamentarismus müsste die Beschäftigung mit den Ergebnissen einer Wahl Standard radikal linker Politik sein. Nirgends findet sich ein so detaillreiches Bild von der Stadtgesellschaft und den Nachbarschaften wie in den Stimm- und Kommunalwahlbezirken. Es sind Hinweise auf Interventionsmöglichkeiten und -notwendigkeiten und sie helfen dabei, die Stimmungslage auch in den Quartieren einzuschätzen, die nicht zur eigenen Filterblase gehören. Bei der Betrachtung der Ergebnisse der Landtagswahl haben wir uns auf die Kommunalwahlbezirke beschränkt. Wer sich für noch genauere Ergebnisse interessiert, kann sich auf der Seite der Stadt Wuppertal auch das Abstimmverhalten der direkten NachbarInnen im eigenen Stimmbezirk anschauen. Dort kann zum Beispiel nachgesehen werden, ob es im direkten Umfeld Nazis gibt und wenn ja, wie viele.

Das wichtigste Ergebnis zuerst: Die Tatsache, dass die AfD in Wuppertal so gut wie keinen Wahlkampf führte (es gab z.B. gar nicht erst den Versuch der Plakatierung), hat der Zustimmung zur Partei in der Stadt keinen Abbruch getan. Ihr Ergebnis fiel mit 8,51% sogar ein Prozent besser aus als im Landesschnitt. Insgesamt gaben 12.585 Menschen in Wuppertal ihre Stimme der AfD. Mit ihrem Ergebnis liegt die AfD im Tal in zwei von drei Wahlkreisen auch vor der LINKEN. Nur im Wahlkreis Wuppertal II, das ist Elberfeld (mit dem Ölberg und der Nordstadt), konnte die LINKE ein knapp besseres Ergebnis erzielen als die AfD (8,04% zu 7,50%). Für insgesamt 567 WuppertalerInnen war die AfD jedoch noch nicht rechts genug. Sie wählten die NPD. Das waren allerdings 304 Stimmen weniger als 2012. Hinzu kommen andererseits aber 206 Stimmen für die Republikaner und 81 Stimmen für die kriminellen Hardcore-Nazis von „die Rechte“, sowie 134 Stimmen für die „Initiative Volksabstimmung“, die 2012 allesamt nicht zur Wahl angetreten waren.

Anders als die „klassische Rechte“, die am Ölberg nie ein Bein auf den Boden brachte, konnte die AfD auch dort dreistellige Anzahlen an Stimmen einsammeln, wenn auch deutlich weniger als im übrigen Stadtgebiet. Im Kommunalwahlbezirk Hombüchel, in dem die LINKE zweitstärkste Partei noch vor CDU und den Grünen wurde, erhielt die AfD 155 Stimmen (3,89%), 8 Menschen wählten hier zudem die NPD; am Höchsten waren es 161 (5,25%) Stimmen für die AfD, 9 Stimmen für die NPD. Eine Stimme gab es hier für die Nazis von „die Rechte“. Am Ostersbaum wählten 290 Menschen die AfD (8,84%), aber auch 378 die LINKE (11,25%). Hier wählten darüberhinaus 20 Leute die Nazis von NPD oder „die Rechte“. Die Beteiligung an der Wahl lag am Ostersbaum signifikant unter dem Stadtdurchschnitt (knapp 50%), was den großen Parteien nicht gut getan hat. Es ist der polarisierteste Kommunalwahlbezirk der Stadt. Von der Hälfte der Wahlberechtigten die wählten, wählten 20% die LINKE oder AfD. Der Ostersbaum ist mehr denn je ein Nordstadt-Quartier auf der Kippe.

Die Hochburgen der Rechten finden sich an den beiden Enden der Stadt: Im Westen in Vohwinkel-Ost (9,7%, 403 AfD-Stimmen, 19 Stimmen NPD, 7 Stimmen für „die Rechte“) und -West (10,74% oder 374 AfD-Stimmen, 10 Stimmen für die NPD und 2 für „die Rechte“), sowie ab dem Loh in Richtung Osten. Im Osten Wuppertals konnte die AfD zum Teil dramatisch gute Ergebnisse erzielen (Loh: 11,61%, bzw. 412 Stimmen für die AfD, 16 Stimmen NPD plus 5 Nazis für „die Rechte”). Ähnlich waren die AfD-Ergebnisse in Barmen-Mitte (326 Stimmen, bzw. 10,51%, 15 NPD-Stimmen plus 7 Stimmen für „die Rechte“), sowie am Sedansberg (284 Stimmen oder 10,18% für die AfD, 22 Stimmen für die NPD und 2 „die Rechte“-WählerInnen). Noch übler sieht es in Oberbarmen und Langerfeld-Nord aus. Hier konnte die AfD 13,65% (oder 323 Stimmen) bzw. 12,49% (oder 522 Stimmen) abgreifen. Hinzu kommen 21 bzw. 36 Stimmen für die Nazi-Parteien NPD und „die Rechte“. In beiden Wahlbezirken lag die Beteiligung an der Wahl deutlich unter 50% (in der Stadt gesamt waren es 62%). Weitere Kommunalwahlbezirke, in denen es eine niedrige Wahlbeteiligung gab und die AfD zweistellige Ergebnisse holte, waren Wichlinghausen-Süd und -Nord (10,60%, und 10,76% bzw. 286 und 398 Stimmen, sowie 32 bzw. 23 Stimmen für NPD und „die Rechte“) sowie Nächstebreck und Heckinghausen-Ost (10,35% oder 539 Stimmen für die AfD, 22 Stimmen für die Nazi-Parteien bzw. 11,83%, 420 Stimmen und 26 Stimmen für die Nazi-Parteien). Auch in Heckinghausen-West waren es fast 10% (9,10%). In allen genannten Wahlbezirken lag die LINKE deutlich hinter der AfD, besonders schlimm ist dies in Nächstebreck und Langerfeld.

Insgesamt lässt sich feststellen, dass das Auftauchen der AfD deutlicher als je zuvor macht, dass sich von den „Wohlfühlzonen“ einiger Elberfelder Quartiere niemand blenden lassen darf – es gibt eben auch ein Leben außerhalb des Ölbergs. Auch die zumeist mit einem Kräfteverhältnis von zehn zu eins stattfindenden antifaschistischen Aktivitäten gegen Nazi-Aufmärsche und rechte Kundgebungen sollten nicht zum Irrtum verleiten, sie repräsentierten das Gesamtkräfteverhältnis in der Stadt. Speziell in den als „soziale Brennpunkte“ bezeichneten Quartieren haben sich sehr viele derer die wählen dürfen, vom Parlamentarismus vollständig verabschiedet. Das Ergebnis sind zwar schreckliche Wahlergebnisse für die AfD, doch bedeuten überproportional rechte Wahlergebnisse jedoch nicht, dass dort auch tatsächlich überproportional rechts gewählt würde. Es lohnt sich ein Blick auf die absoluten Zahlen der Stimmen: Davon ausgehend, dass rechte Parteien ihr Klientel zuverlässig an die Wahlurnen gebracht haben, relativiert sich das Bild, die rechten Parteien würden von den so genannten „Unterschichten“ häufiger gewählt als von der „Bürgerlichen Mitte“. Für Oberbarmen ergibt ein um die niedrige Wahlbeteiligung bereinigtes Ergebnis beispielsweise knapp 10% AfD-Stimmen statt der 13,65%, die das Spitzenergebnis in Wuppertal darstellen. Umgekehrt ergäbe sich auf dem gleichen Weg für ein eher bürgerliches Viertel mit überduchschnittlich hoher Wahlbeteiligung wie Cronenberg-Süd auch ein bereinigter AfD-Anteil von knapp 9,5%. Gleichzeitig räumt das auch mit dem Klischee auf, in Vierteln mit besonders hohem Migrationsanteil seien Rechte erfolgreicher.

Und was bedeutet das alles?

Im Gespräch mit Bernhard Sander waren ähnliche Ergebnisse auch für den ersten Wahlgang zur französischen Präsidentschaftswahl festgestellt worden. Die oft gehörte These, es seien vor allem „sozial Schwache“, die den Front National wählen würden, erweist sich auch dort als voreilig, wenn die niedrige Wahlbeteiligung in bestimmten Gegenden berücksichtigt wird. Es ist eine sehr weitgehende politische Abstinenz der Bevölkerung, die rechten Parteien dort oft hohe Ergebnisse bringt – siehe Oberbarmen. Die tatsächliche Verankerung rechter Parteien in der Bevölkerung differiert hingegen weniger als viele meinen; ohne die Erkenntnis, dass die AfD „in der Mitte der Gesellschaft“ ebenso verankert ist wie an ihren Rändern, werden sich wirkungsvolle Strategien gegen den Rechtsruck jedoch kaum entwickeln lassen. Wuppertal wurde auch bei dieser Wahl wieder von der SPD „gewonnen“, und nicht zuletzt die Tatsache, dass die Partei alle drei Direktkandidaten „durchgebracht“ hat, wird ihr den Blick darauf verstellen, wie dramatisch dieser Rechtsruck jenseits ihrer eigenen Abschiebe- und Law and Order-Politik auch in Wuppertal gewesen ist. Das lässt sich am besten an den absoluten Zahlen der Stimmverluste, bzw. -gewinne bei der Wahl ablesen. Insgesamt haben die Parteien „rechts der Mitte“ – also AfD, CDU und FDP – in der Stadt 31.107 Stimmen im Vergleich zur letzten Wahl gewonnen; SPD, Grüne und Piraten verloren hingegen 25.717 Stimmen; mit 8.088 Stimmen weniger haben im Übrigen die Grünen mehr Stimmen verloren als die SPD (- 7.820; Piraten minus 9.809). Auf der anderen Seite konnte lediglich die LINKE mit einem Stimmenplus von 4.336 gegen den Trend abschneiden. Umgerechnet auf das Gesamtergebnis haben die Parteien „links“ von der CDU also im Vergleich zu 2012 roundabout 20% verloren. Das ist jede/r Fünfte.

Damit liegt Wuppertal absolut im Trend aller in diesem Jahr stattgefundenen Wahlen. Sowohl international (Niederlande, Frankreich), als auch in Deutschland (Saarland, Schleswig-Holstein, jetzt Nordrhein-Westfalen), verlieren Sozialdemokraten und links von Liberal-Konservativen angesiedelte Parteien dramatisch. Gleichzeitig zeigt sich bei mehreren liberal-konservativen Parteien ein Drift zum Autoritarismus. Sowohl Macron in Frankreich als neuerdings auch der ÖVP-Jungstar Kurz in Österreich propagieren eine ganz auf ihre Person zugeschnittene Politik, für die sie die Auflösung bisheriger Parteistrukturen in Kauf nehmen. Zur Mitte dieses Wahljahres lässt sich feststellen, dass die Antwort der bürgerlichen Klasse auf die Herausforderung durch Rechte eine Wiederkehr reaktionär-autokratischer Politikkonzepte zu sein scheint. In NRW wird das (möglicherweise in abgemildeter Form), in den nächsten fünf Jahren zu erleben sein. Umso bedauerlicher ist es, dass es für die LINKE zum Einzug in den Landtag nicht reichte, weil gerade einmal 8.561Stimmen gefehlt haben. Allen auch schweren politischen Differenzen zum Trotz wird ein Gegenpol zur AfD im Landtag fehlen. Und die Bedeutung eines „parlamentarischen Arms“, über die wir bei unserer Diskussion viel mit Bernhard Sander gesprochen haben, wird vielen (auch jenen 1.006 Menschen, die dem Spaßfaktor der PARTEI in Wuppertal den Vorzug gegeben haben) sicher noch aufgehen. Während die zu erwartende CDU/FDP-Landesregierung noch skrupelloser als die alte Abschiebungen (auch nach Afghanistan) forcieren wird, wird es erstmals seit sieben Jahren keine frühzeitigen Termine zu beabsichtigten Sammelabschiebungen mehr geben. Auch auf parlamentarische Anfragen wie zum Racial Profiling an Silvester in Köln oder eine kritische Beteiligung an Untersuchungsausschüssen wie dem zum NSU wird verzichtet werden müssen, während die rechte AfD alle diese Möglichkeiten ab sofort hat und für Anti-Antifa-Arbeit nutzen wird. (An dieser Stelle auch ein Danke an einzelne Piraten im letzten Landtag, die vielfach hilfreiche Arbeit gemacht haben.)

Für die radikale Linke bedeuten die Ergebnisse neben des Alarms wegen des Erfolgs für die AfD vor allem eines: Auch in politisierten Zeiten wie in diesem Jahr (in denen die allgemeine Wahlbeteiligung steigt) gibt es in weiten Teilen der Bevölkerung eine völlige Abwendung von „offizieller“ Politik, die tatsächlich in einer schweren Krise steckt. Wo Hipster und Öko-Bourgeois sich einem Schaumschläger wie dem für die Grünen kandidierenden Jörg Heynkes zuwenden, der immerhin 14.756 Stimmen im Tal holte, bleiben in den „sozialen Brennpunkten“ nach wie vor die meisten bei einer Wahl einfach zuhause – die einen, weil sie mangels Pass nicht wählen dürfen, die anderen weil sie offenbar definitiv nichts mehr erwarten. Die radikale Linke weiß seit langem, dass ihre Politik dort, außerhalb der eigenen Wohlfühl-Oase präsent sein müsste, will sie den Rechten nicht mittelfristig das Feld überlassen. In Betrachtung des üblen Rechtsrucks in der Stadt und des Erfolgs der AfD wäre jetzt höchste Zeit, das lange Bekannte umzusetzen. Angesichts der eigenen Verfassung wäre es vermessen zu glauben, die radikale Linke könnte zum Beispiel in Oberbarmen oder in Langerfeld erfolgreich nebenbei intervenieren. In beiden Quartieren muss schon jetzt von einer schlechten Ausgangsposition gesprochen werden. Hier müsste zunächst einmal ein viel intensiverer Kontakt zu den dort lebenden Migranten und Migrantinnen aufgebaut werden, um die drohende Hegemonie rechter Diskurse zu brechen. Doch nebenan vom Ölberg, am Ostersbaum, ist lange nichts entschieden: Das Viertel ist polarisiert und desillusioniert. Eine Konsequenz für die radikale Linke aus den Wahlergebnissen müsste sein, den Kampf um den „anderen Berg” jetzt aktiv zu führen und zu intensivieren.