Von den Phillipinen lernen – Veranstaltungbericht Teil 2

In den Phillipinen regiert seit einem dreiviertel Jahr ein Präsident mithilfe eines Phantasmas, nach dem Drogenhändler und Drogennutzer für fast alle gesellschaftlichen Probleme des Landes verantwortlich sind. Bei der ersten Veranstaltung unserer Reihe „Politik in der Rechtskurve“ hat der in Manila lebende Soziologe Niklas Reese ausführlich darüber berichtet. Mit seiner Art zur Etablierung eines autokratischen Systems ist Rodrigo Duterte sicher ein Vorreiter von Politikkonzepten, die auch in anderen Teilen der Welt Erfolge erzielen, in der Türkei, in den USA und nicht zuletzt auch in weiten Teilen Europas. Im zweiten Teil unseres Artikels beschäftigen wir uns mit der Frage, was wir aus Dutertes Erfolg lernen können, um ähnliche Erfolge rechter Politik zu verhindern.

Trotz aller Unterschiede zu rechten oder „rechtspopulistischen“ europäischen oder US-amerikanischen Entwicklungen – so präsentiert sich Duterte zum Beispiel als Vorreiter für sexuelle Selbstbestimmung und Frauenrechte und pflegt gute Beziehungen auch zu den muslimischen Bevölkerungsteilen auf Mindanao – zeigte der erste Vortrag unserer Reihe durchaus Parallelen zu politischen Entwicklungen in Europa oder den USA auf. Nur vorgeblich „aus dem Nichts“ der Provinz kommend, hat Duterte bisherige Seilschaften und Sphären politischen Einflusses der von ihm so genannten „alten Eliten“ hauptsächlich deshalb aufmischen können, weil es seiner Kampagne gelang, eine auf ihn und sein Programm zugeschnittene Beschreibung der phillipinischen Realität durchzusetzen. In der sind die „Elitisten“ identisch mit den „Feinden des Volkes“, zumindest paktieren sie miteinander. Dutertes ziemlich bizarre Erzählung von der Verantwortlichkeit der Drogenhändler und -nutzer für alle gesellschaftlichen Probleme ist dabei das Äquivalent jener Schimären, mit denen rechte Bewegungen in den USA oder in Europa komplexe Zusammenhänge auf einfache Verantwortlichenkeiten und Schuldzuweisungen reduzieren. In ihren Parallel-Wirklichkeiten kann ein „Feind“ eindeutig benannt werden – um welchen es sich jeweils handelt, erscheint austauschbar. Die Konstruktion eines “Feindes” erfordert in jedem Fall „Lösungen“ die es erforderlich machen können, zuvor allgemein anerkannte Grenzen zu überschreiten. Die halluzinierte Bedrohung für das gleichermaßen hochstilisierte wie andererseits auf eine handhabbare definierte Größe reduzierte Gemeinwesen, wo man sich kennt und dem Handeln moralische Erwägungen zugrundeliegen, erfordert kollektive Verteidigung. Dabei scheint es egal, ob es sich dabei um eine “Region”, eine “Nation”, “das Abendland” oder eine Religion handelt. Demokratische oder rechtsstaatliche Prinzipien sind dabei hinderlich. Sie werden deshalb mit dem „Feind“ assoziiert. Rodrigo Duterte sieht Menschenrechts-NGOs als Teil einer westlichen Verschwörung mit den Drogenkartellen am Werk, Recep Tayip Erdogan unterstellt der Presse, im Auftrag von “Terroristen” zu berichten, für AfD und Pegida haben sich  „Gutmenschen“ und “Lügenpresse” verschworen, den “Volkstod” zu betreiben.

Ein frontaler strategischer Angriff Gläubiger

Hinter den, die rechten Politikkonzepte befeuernden absurden Beschreibungen der Wirklichkeit verbirgt sich mehr als ein irres Phantasma. Sie sind ein frontaler strategischer Angriff auf Grundrechte und Demokratie. In (West-) Europa oder den USA befindet sich dieser Angriff bislang noch im Stadium des Versuchs zur Durchsetzung alternativer Realitätsbeschreibungen; von vielen wird er bislang nicht als Strategie erkannt. In den Phillipinen ist die Entwicklung weitergediehen. Dort ist bereits zu erleben, wie der Umbau kollektiver Wirklichkeitsbeschreibungen und die daraufhin eingeleiteten „Maßnahmen zur Verteidigung des Vokes“, eine zuvor nur phantasierte Bedrohung für die Bevölkerungsmehrheit nach und nach ganz real werden lassen. Die reale Verunsicherung nähert sich sukzessive dem vorher nur suggerierten „gefühlten“ Bedrohungsszenario an. Die Lage der Einzelnen wird tatsächlich bedrohlich, ohne dass sich die Betroffenen jedoch gegen jene wenden würden, die das ganze Szenario überhaupt erst erschaffen haben, wie aktuelle Umfragen in den Phillipinen belegen. Ausschlaggebend dafür ist die Wirkmächtigkeit des einmal etablierten Phantasmas; die anwachsende Unsicherheit wird nicht auf die tatsächliche Bedrohung, also auf Dutertes „Death-Squads“, zurückgeführt, sondern deren vorgeblich notwendige Härte ist vielmehr Ausweis der wachsenden Stärke und Bedrohlichkeit des imaginierten „Volksfeindes“. Mithilfe des zur Wirklichkeit mutierten und zur Grundlage staatlichen Handelns gemachten Phantasmas wird nach und nach die Lebenswirklichkeit der Menschen real verändert. Die „Macht der Drogenhändler” wird als ursächlich für die eigene zunehmende Bedrohung durch den „Krieg gegen Drogen” angesehen. Folge ist, dass außerhalb der alternativen Wirklichkeitserzählung angesiedelte Alternativen zu noch größerer Härte und zu noch mehr Morden kaum noch vorstellbar sind. Beängstigend ist, mit welcher Geschwindigkeit dieser Prozess nach dem ersten Erfolg der Duterte’schen Erzählung in den Phillipinen ablief: Vom Phantasma vor der Präsidentschaftswahl bis zur tatsächlichen Realitätsveränderung dauerte es nur wenige Monate.

Eine Kritik an rechten Politikkonzepten, die sich hauptsächlich an den „verrückten Argumenten” oder an der vorgeblichen Dummheit der damit Argumentierenden festmacht, erweist sich deshalb als verhängnisvoll. Sie verkennt einfach , dass es einen “Plan” gibt und dass es sich um wohlüberlegte Strategien zur Umwälzung der Gesellschaft handelt. Der Plan fußt nicht auf argumentativer Rationalität, sondern auf Gläubigkeit. Dutertes Erzählung von der „Schuld der Drogenhändler” basierte nie notwendigerweise auf Fakten, ebenso wenig wie die Behauptung einer Bedrohung durch MigrantInnen in Europa. beides wird schlicht geglaubt. Die Diffamierung zuvor glaubwürdiger Quellen wie NGOs oder unabhängiger Medien ist dabei kalkulierter Teil der Strategie. Sie bereitet die Immunisierung der an die jeweilige „alternative Realität” Glaubenden gegen jeglichen Einwand vor. Dieser Irrationalität Gläubiger argumentativ entgegenzutreten ignoriert vollkommen, dass alle Versuche dazu beim Gegenüber glaubensverstärkend wirken, denn sie stellen eine Handlung „feindlich eingestellter Menschen“ dar, deren einziges Ziel es ist, das Erkennen der imaginierten „Wahrheit“ zu verhindern. Basis dafür ist ein empfundenes „Innen” und ein abgrenzend definiertes „Außen”. Religiöse Sekten funktionieren genauso. Wer die Glaubengrundsätze zu diskussionswürdigen Meinungen gesellschaftlicher Diskurse macht, besorgt daher das Geschäft der rechten Strategen. Die Kontrahenten einer Diskussion werden im Glauben bestärkt aus der Debatte hervorgehen, gleichzeitig werden ihre Thesen für neutralere Beteiligten mehr und mehr zu normalisierten Debattenbeiträgen. Auch das ist rechtes Kalkül: Es geht nicht darum, dass die neutralere Beteiligten – die sich gerne „unpolitisch“ oder „nicht rechts und nicht links“ nennen – anfangen, den Glauben zu übernehmen. Vielmehr sollen sie durch die vorgetragenen differierenden „Fakten“ zunehmend verunsichert werden. Am Ende soll möglichst niemand mehr wissen können, was denn nun stimmt. Dieses Verwischen und unkenntlich machen gehört zur rechten Diskursstrategie: Die „Neutralen“ sollen so aus Diskussionen herausgehalten und wortwörtlich „neutralisiert” werden.

Wo es kein „Vorwärts“ mehr geben darf, bleibt nur ein „Zurück“

Die „alternativen Realitätsbeschreibungen” diskursiv zu ignorieren, heißt freilich nicht, die Ursachen ihrer zunehmenden Akzeptanz auszublenden. Es ist notwendig, sich mit den Gründen für den Erfolg halluzinierter „Parallel-Realitäten“ zu beschäftigen. Das passiert scheinbar auf allen Kanälen und in jeder zweiten Talkshow. Doch die angegriffenen Gesellschaften offenbaren bei den Debatten um die Gründe für den Erfolg der von ihnen so genannten „Populisten” einen blinden Fleck, der sie im Zweifel die inhaltliche Diskussion einer analytischen vorziehen lässt. An zu vielen Stellen befinden sie sich selbst in Erklärungsnot – ein Großteil des Bestehenden basiert seinerseits auf nicht-faktischen, „alternativlosen” Realitätsbeschreibungen. Während es der so genannten „Elite“ der Phillipinen nie gelang, weit verbreitete große Armut als Folge von Korruption und herrschenden neoliberalen Verhältnissen wahrzunehmen, haben die europäischen Gesellschaften ihre blinden Flecken, wenn es beispielsweise um eigene Verantwortlichkeiten für weltweite Fluchtursachen geht und konkret hilfreiche Gegenmaßnahmen einzuleiten; also Waffenhandel zu stoppen oder wirklich wirtschaftlich fair zu handeln. Die Verlagerung der Probleme von den Fluchtursachen auf die Flüchtenden bietet sich so zwangsläufig an. Anfälligkeit für einfache Realitätskonstruktionen kann auch eine Flucht vor dem Anerkenntnis eigener Verantwortung sein. Dass Mittelschichten angesichts fehlenden Problembewusstseins und fehlender wirklicher Lösungsansätze in besonderem Maß für einfache Realitätsbeschreibungen anfällig sind, ist demnach weniger einer immer wieder von Politik und Medien angeführten „Angst vor einem Absturz“ geschuldet, sondern vielmehr Ausdruck eines nicht eingestandenen Wissens um eigene Verantwortlichkeit und der eigenen Unfähigkeit, daraus Konsequenzen zu ziehen. Die Mär von der “Absturzangst” perpetuiert vielmehr die eigene alternativlose Erzählung neoliberaler Gesellschaften: Für ihre Politik und Medien ist es einfacher zu behaupten, Menschen hätten Angst vor einem gesellschaftlichen Abstieg als real vorhandene Ängste vor notwendigen Veränderungen anzusprechen. Ohne eine Thematisierung der Ursachen tatsächlich bestehender Probleme können die attakierten bürgerlichen Schichten für uns  jedoch keine Hilfe im Kampf gegen eine „Politik in der Rechtskurve“ sein.

Und noch etwas bleibt oft ausgeblendet: Die Rückkehr des Nationalen und der einfachen Wirklichkeitsbeschreibungen sind auch Ausdruck zuvor gescheiterter Aufbrüche und gescheiterter Alternativen. Selten wird bei der Erforschung von Ursachen aktueller Entwicklungen auf das geschaut, was vor einer Generation die heute handelnden Personen (mit-) geprägt hat. Es ist sicher kein Zufall, dass die Wiederkehr offen autoritäter Politik in den Phillipinen möglich war, nachdem eine Generation das Scheitern der mit dem Sturz von Ferdinand Marcos vor gut dreissig Jahren verbundenen Hoffnungen ihrer Eltern erlebte, oder dass es auch in den osteuropäischen Ländern wie Polen, Rumänien oder der Slowakei eine „Nach-Aufstands-Generation“ ist, die sich nationalistischen und einfachen Denkmustern zuwendet. Auch das Scheitern vieler, mit großen Hoffnungen verbundener Aufbrüche ist mit dem Beharren herrschender Gesellschaftsschichten auf das Bestehende eng verbunden. Vielfach haben sie schnell direkte und indirekte Wege gefunden, ihre Macht zu erhalten und aus vorgeblichen Befreiungen und Umgestaltungen lediglich eine Neuauflage des Alten zu machen. Zu viele, einer Zukunft zugewandte Versuche wurden schleichend wirtschaftlich oder ganz brutal mit Tränengas und Gummigeschossen auf der Straße beendet. Die Anfälligkeit für in der Vergangenheit angesiedelte Versprechen darf vor diesem Hintergrund nicht überraschen. Wenn diese Hypothese zutreffend ist, lässt sie angesichts der fortgesetzten Reihe gescheiterter und verratener Revolten in den letzten Jahren (etwa im so genannten „arabischen Frühling“) Böses erahnen. Eine fundierte linke und kritische Auseinandersetzung mit den gescheiterten Aufbrüchen ist deshalb überfällig. Die derzeit dringlichste Frage bleibt jedoch, wie die Durchsetzung rechter Wirklichkeitsbeschreibungen durchkreuzt werden kann und wann es für einen Kampf um vermeintliche Mehrheiten zu spät sein könnte. Wenn die bürgerlichen Mitte im zuvor geschilderten Sinn „neutralisiert” ist, kann es nicht mehr um Mehrheiten gehen. Es geht dann um kritische Massen. Angesichts der Hochgeschwindigkeit, mit der Autokraten dem Ausbau und Erhalt ihrer Macht dienende Maßnahmen durchsetzen, besteht die Gefahr, den Zeit für Strategiewechsel zu verpassen: Sowohl die Phillipinen als auch beispielsweise die Türkei sind in sehr kurzer Zeit von Ländern mit ´hohem Widerstandpotential zu in weiten Teilen paralysierten Gesellschaften geworden. Auf dem Weg dahin wurden jeweils mehrere Linien überschritten, von denen kurz zuvor noch angenommen wurde, dass ihr Überschreiten entschlossenen Widerstand auslösen würde.

Inzwischen ist in beiden Ländern eine „Exit“-Perspektive jenseits katastrophaler wirtschaftlicher oder gewaltsamer Entwicklungen kaum noch denkbar. Doch wann erreicht eine einmal von rechts etablierte Wirklichkeitsverzerrung den „point of no return“ jenseits zivilgesellschaftlicher Korrekturmöglichkeiten? Reicht ein Wahlsieg aus, oder müssen erst Maßnahmen wie Massentötungen in den Phillipinen oder Massenverhaftungen wie in der Türkei begonnen haben? Welche konkreten Schritte sind es, die  rechte Herrschaft so absichert, dass eine Opposition sich und ihre Aktivitäten neu definieren muss? Sicher ist, dass der Prozess ein schleichender ist und dass es vor Erreichen des „point of no return“ kein lautes „Alerta!” geben wird. Die Beispiele von erfolgreich umgesetzten rechten Strategien können unsere Wahrnehmung schärfen. Unsere Veranstaltungsreihe wird fortgesetzt.

Teil 1 des Veranstaltungsberichts – „Dutertes Phantasma”