VA-Bericht Türkei: Niemals überwundener Nationalismus
Bericht zur Veranstaltung „Die Türkei nach dem Referendum” mit Ismail Küpeli
Es war mittlerweile schon die fünfte Wuppertaler Veranstaltung mit Ismail Küpeli und nicht weniger als viermal hatten wir ihn eingeladen, über die Lage in der Türkei und Kurdistan zu berichten. Wer an diesen Abenden dabei war, wusste, dass es in der Regel keine besonders hoffnungsvollen und optimistischen, dafür aber faktenreiche und informative Vorträge sind, die der Duisburger Politikwissenschaftler und Journalist im Gepäck hat. Wenig überraschend war das auch diesmal, am 27.April im ADA, nicht anders, denn es war der elfte Tag nach dem Verfassungsreferendum und der dritte Tag, nachdem die türkischen Streitkräfte begonnen hatten, Luftangriffe gegen die Stellungen der YPG/YPJ in Syrien sowie der yezidischen Selbstverteidigungskräfte YBS zu fliegen.
Hinsichtlich der Volksabstimmung über das Präsidialsystem gibt es aus Sicht von Ismail Küpeli keinen Zweifel daran, dass es sich bei dem Ergebnis (51,4 Ja-Stimmen gegen 48,6 Nein-Stimmen) um massive Wahlfälschung gehandelt haben muss. Die deutschen Leitmedien hingegen hatten diese Einschätzung im Prinzip immer nur in indirekter Rede wiedergegeben; so berichtete bspw. die „Zeit“: „Die Opposition zog die Rechtmäßigkeit der Abstimmung in Zweifel“. Bei 1,5 Millionen blockweise bei der Wahlauszählung aufgetauchten, unregistrierten und nach türkischem Wahlrecht ungültigen Stimmzetteln, die gleichwohl trotzdem gewertet wurden, dürften jedoch an einer Wahlmanipulation keine Zweifel mehr bestehen.
Zumal es weitere Seltsamkeiten gibt, wie etwa den Umstand, dass nach den offiziellen Ergebnissen speziell in den durch das türkische Militär massiv zerstörten kurdischen Gebieten besonders viele „Ja“-Stimmen abgegeben worden sein sollen – ihr Anteil lag höher als das Wahlergebnis der AKP bei den Parlamentswahlen. Das ist nicht nur unwahrscheinlich, es erscheint völlig widersinnig. Nichtsdestotrotz gibt die CHP, die größte Partei, die gegen das Präsidialsystem mobilisiert hatte, nun der kurdischen Bevölkerung im Südosten die „Schuld“ am „Ja“ zum Präsidialsystem; die CHP hat zudem dazu aufgerufen, den Protest gegen das Referendum „nicht auf die Straße zu tragen“. Das lässt laut Ismail Küpeli wenig Raum für Hoffnungen auf einen gemeinsamen Widerstand der beiden Oppostionsparteien HDP und CHP gegen die Wahlfälschung. Besonders, da auch gegen oppositionelle Medien mit aller Härte vorgegangen wird. Der Fall Deniz Yücel ist schließlich nur aus deutscher Sicht ein besonderer: In keinem Staat sind so viele Journalisten inhaftiert wie in der Türkei. Trotz der Gleichschaltung der Medien wurde das von Erdogan fanatisch betriebene Vorhaben eines auf ihn zugeschnittenen Präsidialsystems am 16.4. nur knapp bestätigt. Umso rücksichtsloser wird es nun wohl mit allen Mitteln durchgesetzt. Das beweisen tausende Entlassungen und Verhaftungen in den letzten Tagen.
Fast uneingeschränkte Macht des Präsidenten
Dem künftigen Präsidenten wird das neue politische System praktisch uneingeschränkte Macht über sämtliche staatliche Institutionen geben – der seit dem Putschversuch am 15.7. geltende (und nach dem Referendum umgehend verlängerte) Ausnahmezustand wird damit de facto verfassungsrechtlich abgesegnet und auf Dauer implementiert. Das vollständige Inkrafttreten der Verfassungsänderung wird allerdings noch zwei Jahre dauern, einige Änderungen treten erst nach den Wahlen 2019 in Kraft. Wenn alle Änderungen umgesetzt sind, wird der Staatspräsident nach Belieben MinisterInnen ernennen und absetzen können – sie müssen dann auch auch keine ParlamentarierInnen mehr sein, er kann beliebige Personen dazu bestimmen. Dem Parlament gegenüber ist er keine Rechenschaft hierzu schuldig; er kann Ministerien auflösen, einrichten oder neu zusammensetzen, ohne dass das blockiert werden könnte. Auch Personalentscheidungen im Justizapparat und sogar im Bildungswesen (Ernennung bzw. Absetzung von Uni-Rektoren und Dekanen) obliegen künftig dem Präsidenten.
Der Präsident kann sogar den Staatshaushalt bestimmen. Der muss zwar formal vom Parlament bestätigt werden – sollte es jedoch seine Zustimmung verweigern, wird der Vorjahreshaushalt inflationsangepasst automatisch auf das nächste Jahr übertragen. Damit entfällt ein zentrales – und manchmal auch das letzte Kontrollinstrument eines Parlaments; aktuell erfährt zum Beispiel Donald Trump, was parlamentarische Ausgabenkontrolle bedeutet. Wer sich mit der Türkei befasst, weiß jedoch, dass viele dieser Änderungen nur längst angewandte Regierungspraxis widerspiegeln. Schon heute kündigt Recep Tayip Erdogan im Staatsfernsehen Verhaftungen an, die am Folgetag durch den gesäuberten Polizeiapparat durchgeführt und durch die drangsalierte Justiz angeordnet werden. Und wie der türkische Staat auf Widerstand gegen vom Präsidenten gewünschte Investitionsvorhaben reagiert, ließ sich schließlich bereits 2013 bei der Niederschlagung der „Gezi-Proteste“ feststellen.
Nationalismus als Herrschaftskitt der AKP
Das knappe Ergebnis kann vor diesem Hintergrund daher auch so gedeutet werden, dass die Zustimmung zur Regierungslinie der AKP instabiler geworden ist. Erdogan versteht es allerdings geschickt, einige seiner wichtigsten Gegner immer wieder einzubinden wenn er an einem kritischen Punkt angekommen ist. Ein solcher Punkt könnte jetzt sein; denn nicht nur HDP und CHP verweigerten ihm die Zustimmung zur Verfassungsänderung, sondern auch weite Teile der von ihm vor dem Referendum heftig umworbenen rechtsnationalistischen MHP. Der Angriff auf Rojava (die kurdischen Gebiete in Nordsyrien) und die dortigen YPG/YPJ-Milizen und auf die (der PKK nahestehende) yezidische Selbstverteidigung im Nordirak könnte auch der klassische Versuch eines unter Druck geratenen Regimes sein, innenpolitische Schwäche durch eine außenpolitische Eskalation zu überdecken. Sie gibt dem Militär Beinfreiheit und Ressourcen und die kemalistisch-nationalistische Opposition wird hinter der Regierung gesammelt. Selbst die kemalistische CHP steht schließlich in der Regel stramm, wenn es gegen die KurdInnen geht. Nationalismus wird so (wieder einmal) zum Kitt für das Herrschaftsgebäude der AKP.
Dass der notorische Nationalismus in der türkischen Gesellschaft, niemals, auch nicht von der türkischen Linken, überwunden wurde, hält Ismail Küpeli denn auch für einen zentralen Faktor der Schwäche linker Gegenmacht in der Türkei. Hinzu komme eine langjährige Fehleinschätzung der AKP, die von vielen fälschlicherweise als ideologische Bewegung und nicht als sehr geschickter machtstrategischer Akteur betrachtet wurde. Dabei habe es die AKP gut verstanden, den türkischen Nationalismus in ihrem Sinne zu transformieren und mit seiner Hilfe eine Islamisierung der Gesellschaft weiter zu beschleunigen. Sie habe so allmählich eine immer umfassendere kulturelle Hegemonie etabliert, die jeden alternativen Entwurf als Verrat am Islam aber eben auch an der Nation geißele.
Die Linke hat sich auch selbst paralysiert
Erste rechtsstaatswidrige Verhaftungen im Rahmen der Ergenekon-Verfahren habe die Linke noch als eine Art demokratischer Selbst-Reinigung begriffen – schließlich richteten sich die Repressionen zumeist gegen Generäle und hohe Militärs, die alten Feinde der Linken. Zugleich war es aber eben ein Manöver des neuen Regimes, sich potentieller oder imaginierter Gegner auf nicht-rechtsstaatliche Weise zu entledigen. Als weiteren Fehler bezeichnete Ismail Küpeli die scheinbare Gewissheit, der worst-case würde schon nicht eintreten und keine Strategie dagegen zu entwickeln. So wurde auch das Ausmaß der späteren Repression nicht antizipiert; es wurde nicht erwartet, dass gewählte ParlamentarierInnen im Knast landen, oder dass ganze kurdische Städte zerstört und tausende ZivilistInnen massakriert würden. Als es doch geschah, gab es mangels Vorbereitung keine starke Reaktion. Es sei jedoch notwendig, eine realistische Einschätzung des Regimes und dessen, wozu es fähig ist, zu entwickeln.
Zunächst blieben den linken oppositionellen Kräften derzeit nur wenige Optionen, so Ismail Küpeli. Es könne nur bei jeder einzelnen Verhaftung, Entlassung, Bombardierung, bei jedem Akt des Staatsterrors gegen ZivilistInnen, weiterhin ziviler Widerstand geleistet und so versucht werden, den Preis, den das Regime dafür zu zahlen hat, möglichst hoch zu halten. Eine Option der HDP könnte es sein, sich ihrer fassadenhaften Rolle als entmachteter Oppositionspartei in einem entmachteten Parlament zu entledigen und sich auf diesen zivilen Widerstand zu konzentrieren. Als dritte Option bliebe schließlich allein die Selbstbewaffnung für den militanten Kampf. Vieles wird laut Ismail Küpeli davon abhängen, wie sich der neu begonnene Krieg in der nächsten Zeit weiterentwickelt.
Er wollte jedoch keine Prognose abgeben, ob die erfolgten Bombardierungen und Angriffe der Beginn eines langfristigen Krieges der Türkei gegen die kurdischen Selbstverteidigungskräfte ist, oder ob sie eine kurzfristige Eskalation in einem weiterhin eingegrenzten Konflikt bleiben. Das wird letztendlich von der Gesamtkonstellation der Kräfteverhältnisse im Nahen/Mittleren Osten abhängen. Noch immer werden die kurdische YPG, bzw. die kurdisch-arabischen SDF sowohl von den USA als teilweise auch von Russland unterstützt; bislang werden sie noch als Bodentruppen und Stabilisierungsfaktor benötigt – sei es bei der Rückeroberung von Raqqa, sei es als das Regime stützender Gegenpol gegen türkisch unterstützte islamistische Milizen. Das alles kann sich allerdings jederzeit ändern, fest steht, dass die langfristigen Kriegspläne der Türkei darauf abzielen, die kurdischen Kräfte an ihrer Grenze zu neutralisieren.
Inszenierte Konflikte auf Nebenkriegsschauplätzen
In diesem Zusammenhang ist sehr interessant, über was hierzulande geredet und berichtet wird und über was nicht. Während Massenentlassungen und Verhaftungen in der Türkei es in die vorderen Sendeminuten der Hauptnachrichten und manchmal indirekt auch in die Bundespressekonferenz schaffen, sind die Bombardierungen kurdischer Städte und Dörfer beispielsweise keine Randnotiz wert. Auch die Aussagen zur Manipulation des Referendums waren eher zurückhaltend. Dieses Missverhältnis interpretiert Ismail Küpeli als ein ausschließlich wirtschaftliches und geostrategisches Interesse Deutschlands an der Stabilität der Türkei; durch Verhaftungen und Entlassungen geschwächte staatliche Institutionen gefährden in den Augen Deutschlands die Stabilität des NATO-Partners. Allein die innere Stabilität und nicht Sorgen um die Demokratie und um Rechtsstaatlichkeit sei es, was deutsche PolitikerInnen und die Wirtschaft beunruhige. Ähnliches ließe sich zum Beispiel auch bei der Zusammenarbeit mit Ägypten oder Aserbaidschan feststellen.
Die oft angesprochenen EU-Beitrittsverhandlungen sieht Küpeli lediglich als Spielball, den beide Seiten zwecks eigener Gesichtswahrung gerne zu opfern bereit wären. Niemand glaube mehr an einen EU-Beitritt und es gäbe auch kein echtes Interesse daran. Die wirtschaftliche und sicherheitspolitische Kooperation würde unter dem Abbruch der Verhandlungen auch nicht leiden. Die ökonomische Krise in der Türkei, die tatsächlich das Potential hätte, in eine Hegemoniekrise der herrschenden Partei zu münden, würde auch in Zukunft sicher über deutsche Hilfsgelder und Investitionen abgemildert. Der Öffentlichkeit würde durch inszenierte Konflikte ein Zerrbild auf Nebenschauplätzen vermittelt, wonach die deutsche Regierung vor Konsequenzen nicht zurückschrecke. In Wirklichkeit aber liefe das Business “as usual” einfach weiter.
So vermeldeten die Medien vor wenigen Wochen, dass Waffenexporte in die Türkei angeblich 2016 durch die Kontrollgremien zunehmend unterbunden worden seien. Tatsächlich waren in elf Fällen Exportlizenzen zwar nicht erteilt worden, die Gesamtzahl der Waffenexportanträge hatte aber zugenommen. Exporte und Volumen des Waffenhandels haben also insgesamt zu- und nicht abgenommen. Die Kooperation wird ungebrochen fortgesetzt, allerdings eher leise und möglichst ohne zuviel Aufsehen. Deshalb dürfte es der Regierung peinlich gewesen sein, als ein aufgetauchtes Video dokumentierte, dass Panzerfahrzeuge und Waffen aus Bundeswehrbeständen, die, um die Yeziden vor Daesh zu schützen, an die Peshmerga der türkeifreundlichen KDP-Regierung unter Barzani im Nordirak geliefert wurden, nun durch Peshmerga-Milizen gegen eben diese Yeziden eingesetzt werden. (Über die Unmöglichkeit, ein deutsches Leit-Medium für Berichte darüber zu gewinnen, hat das LowerClass Magazine einen verzweifelten und sarkastischen Artikel verfasst.)
In Deutschland stellt sich in erster Linie die Aufgabe der Solidaritätsarbeit auf der Straße oder am Schreibtisch, wenn es um die Thematisierung der Repression in der Türkei geht, aber auch in konkreter Solidarität mit hierhin geflüchteten türkischen und kurdischen Menschen. Es sind immer mehr Genossen und Genossinnen, oft auch Künstler oder Journalistinnen, die ihr Leben und ihre Arbeit hier fortsetzen möchten. Dabei wird es ihnen von den deutschen Behörden zur Zeit nicht leicht gemacht, einer Quasi-Einladung zur Stellung eines Asylantrags durch die deutsche Regierung nach dem versuchten Putsch zum Trotz. Ihnen müssen hier Wege gezeigt und Kanäle, Plattformen und Strukturen zur Verfügung gestellt werden. Vor allem muss es uns darum gehen, die notorische Kooperation Deutschlands auf allen Ebenen bekannt zu machen und zu skandalisieren. Wenn die Mehrheit der deutschen Bevölkerung sich nicht länger darüber echauffierte, dass Recep Tayip Erdogan Angela Merkel Nazi nennt, sondern darüber, dass die Düsseldorfer Rheinmetall AG mit Zustimmung eben jener Angela Merkel Waffen aller Art liefert und gar eine Panzer- und Munitionsfabrik in der Türkei bauen will, hätten wir unseren Job gut gemacht. Denn auch bei Rheinmetall werden nicht alle Arbeiter und Arbeiterinnen damit glücklich sein. Die deutsche Linke sollte sie mit ihrem Unbehagen nicht alleine lassen.
Ismail Küpeli über Hasskampagnen
Eine Woche vor dem Referendum hat unser Referent zur zweiten Veranstaltung der Reihe „Politik in der Rechtskurve”, Ismail Küpeli, mit dem Deutschlandfunk über die “Deutsch-türkischen Hasskampagnen vor dem Verfassungsreferendum gesprochen”. Wir dokumentieren hier das Interview.
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DLF: Am 16. April steht in der Türkei das Verfassungsreferendum an. Auch in der türkischen Community in Deutschland lässt das Thema die Emotionen hochkochen, gerade in den sozialen Netzwerken wird auch auf Deutsch aktiv, aggressiv auch für ein “Ja” beim Referendum geworben, unter anderem – ich möchte darüber nun sprechen mit Ismail Küpeli, Politikwissenschaftler an der Ruhruniversität in Bochum und Türkeikenner. Herr Küpeli, auf der öffentlich zugänglichen Facebook-Seite “Stolz der Türkei”, RT, Erdogan wird am 12. März um 12:59 Uhr der Post geteilt: Die Enkel der Nazis sind im Vormarsch, durch die Medien und die Politik Europas wird der Nationalsozialismus wiederbelebt, diesmal auf dem Rücken der Muslime. Herr Küpeli, dieser Post ist nur eines von ganz vielen Beispielen, die in eine ähnliche Richtung zielen. Woher kommt eigentlich dieser Hass?
Ismail Küpeli: Dieser Hass, diese Hetze kommt dadurch zustande, dass die türkische Staatsführung, insbesondere auch der Staatspräsident Erdogan, diese Richtung vorgegeben hat. Es ist in den meisten Fällen so, dass die Regierungsanhänger, Erdogan-Anhänger in Deutschland im Prinzip das nachsprechen, nachbeten, was der Staatspräsident Erdogan ihnen quasi vorgibt. Das ist in vielen Fällen eben so, dass dann quasi ein Signal gegeben wird, und dann schießen die Anhänger hier in Deutschland auch in die gleiche Richtung. Das ist nicht besonders überraschend und auch nicht besonders kreativ.
DLF: Würden Sie eigentlich sagen, dass das irgendwie zentral gesteuert ist, oder ploppt das einfach überall hoch?
Küpeli: Das muss gar nicht mehr groß gesteuert sein. Es kann durchaus sein, dass es gewisse Punkte gibt, wo solche Hetzkampagnen zusammenkommen, aber man kann inzwischen davon ausgehen, dass die Regierungsanhänger sich eben anschauen, wie äußert sich der Staatspräsident, wie äußern sich führende AKP-Politiker, und dann geht es in die gleiche Richtung. Ich glaube nicht mehr, dass es dafür eine große Steuerung braucht. Dass wir jetzt nicht von einer Troll-Fabrik ausgehen, in der von oben durchgegeben wird, heute müsst ihr in diese Richtung schießen, sondern dass viele auch Deutschtürken sich halt anschauen, was wird in Ankara gesagt, und dann dem nachfolgen.
Zum Teil Millionen Follower
DLF: Diese angesprochene Seite, Herr Küpeli, die hat über 60.000 Follower, die Links werden tausendfach geteilt – da muss einem ja Angst und bange werden.
Küpeli: Das ist sogar eher eines der kleineren Profile offensichtlich. Wenn wir uns auf Twitter die dortigen Accounts angucken von relativ bekannten AKP-Trollen, dann geht das zum Teil in die Millionen Follower. Und die Reichweite ist dementsprechend groß. Insofern darf man auch nicht überrascht davon sein, dass diese Poster, die sich wirklich wellenförmig verbreiten – wenn drei, vier, fünf solcher Accounts eine solche Parole aufgreifen und weiter verbreiten, dann geht diese Welle sehr weit und auch sehr tief. Insofern ja, es ist eine ganz große Zahl von Menschen, die sich auch hier in Deutschland von solchen Parolen, von einer solchen Hetze anstecken lassen, und das ist tatsächlich ein sehr großes Problem.
DLF: Beliebtes Ziel sind auch “die Medien”. Es gibt Seiten, die nennen sich zum Beispiel “Deutschland führt eine Hetzkampagne gegen die Türkei”, da schreibt der Nutzer Aron Sparta: “Wie wir die europäische Propagandamedien kennen, werden sie weiter Hetze gegen Erdogan und die Türkei fortfahren.” Entsprechen solche Aussagen eigentlich der tatsächlichen Meinung über unsere Medienlandschaft?
Küpeli: Von einem gewissen Teil der türkischstämmigen Bevölkerung durchaus. Auch Kollegen, die etwa von AKP-Veranstaltungen berichten, erleben wir es auch immer wieder, dass ihnen viele sehr feindlich gesonnen sind und dass sie Schwierigkeiten haben, überhaupt Menschen zu interviewen, weil viele deutsche Medien als feindlich empfinden und dementsprechend darauf reagieren.
“Das ist diese Idee, dass die Türkei vom Westen bedroht wird”
DLF: Warum eigentlich, Herr Küpeli?
Küpeli: Warum das so ist, hat viele Gründe. Das eine ist, AKP und auch Erdogan können da auf etwas zurückgreifen, was sie nicht selbst geschaffen haben, aber was in der türkischen Geschichte durchaus vorhanden ist. Das ist diese Idee, dass die Türkei vom Westen, von äußeren Mächten bedroht und angegriffen wird und dass die inneren Feinde in der Türkei selbst diesen äußeren Feinden helfen. Also eine antitürkische Verschwörung des Westens mit verschiedenen Kräften der Türkei. Je nach Ausrichtung der Urheber dieser Hetze sind es dann eher die Linken oder die Alewiten, die als nicht richtige Muslime gesehen werden. Armenier, Kurden und so weiter und so fort. Auch in vielen Fällen sind es auch dann antisemitische Verschwörungstheorien, indem man dann sagt, Israel steuert die Welt, und über die USA steuert Israel auch die westliche Presse gegen die Türkei. Das sind eigentlich recht übliche Verschwörungstheorien, Hetze-Bestandteile in der türkischen Öffentlichkeit, und darauf kann die AKP zurückgreifen, darauf kann Erdogan zurückgreifen. Er muss sozusagen nicht jetzt eine ganze Verschwörungstheorie selbst erfinden, sondern kann auf diese Bestandteile zurückgreifen. Also die Idee, dass etwa der Westen versucht, die Türkei zu eliminieren, ist etwas, was in der türkischen Öffentlichkeit gängig ist.
“Auch die Regierung greift zunehmend auf Verschwörungstheorien zu”
DLF: Wir sprechen über Verschwörungstheorien. Auf der Seite Deutsch-Türkische Akademiker e.V. wird am 23. März um 21:08 Uhr die Frage aufgegriffen, ob der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Gökay Sofuoglu, insgeheim für den türkischen Präsidenten Erdogan arbeite. Inwiefern fallen solche Verschwörungstheorien, die sich ja nun auf die deutsch-türkische Community explizit beziehen, eigentlich auf fruchtbaren Boden?
Küpeli: Das große Problem ist, in der deutsch-türkischen Öffentlichkeit insgesamt und noch stärker in der türkischen Öffentlichkeit in der Türkei wird der Resonanzboden für solche Verschwörungstheorien sehr groß. Wir erleben eine Regierungspolitik, die insbesondere in den letzten Jahren sehr viel dafür getan hat, dass all die Anschläge, dass all die Konflikte nicht wirklich aufgeklärt werden und dass auch die Regierung zunehmend auf solche Verschwörungstheorien zugreift. Insofern, ermutigt von einer solchen Vorgehensweise von oben, breitet sich das eigentlich weitgehend aus. Und es ist auch nicht nur so, dass nur die Regierungsanhänger solche Verschwörungstheorien verbreiten, sondern auch die Opposition greift zu ähnlichen Methoden. Das ist ein Riesenproblem auch für den politischen Diskurs in der Türkei, und das greift auch über in die türkeistämmige Community hier in Deutschland. Das ist tatsächlich ein Riesenproblem. Und damit müssen auch tatsächlich alle irgendwie umgehen, die sich zur Türkei äußern, egal wie. Sei es kritisch, oder sei es auch nicht so kritisch. Es wird immer unterstellt, dass man mit irgendwelchen geheimen Mächten paktieren würde. Oder es werden irgendwelche Anschuldigungen konstruiert, die wirklich hanebüchen sind. Wenn ich mir dann zum Beispiel selbst, also in meinem Fall lesen muss, dass ich der PKK nahestehen würde oder angehören würde, oder dass ich von westlichen Geheimdiensten bezahlt sei, all das sind Vorwürfe, die zwar absurd sind, aber immer wieder auftauchen.
DLF: Und die sozialen Medien, Herr Küpeli, dienen als Katalysatoren?
Küpeli: Sie können sich darüber auf jeden Fall sehr schnell verbreiten. Das ist in der Türkei selbst weniger wichtig, weil dort auch in den klassischen Medien solche Verschwörungstheorien breiten Raum bekommen. In Deutschland ist die Lage natürlich anders. Es ist hier kaum vorstellbar, dass die führenden Tageszeitungen des Landes solche Verschwörungstheorien auf die erste Seite bringen. Das ist in der Türkei durchaus der Fall. Und für die deutsch-türkische Community sind solche Websites, Facebook-Accounts, Twitter-Profile sehr wichtig, weil sie darüber eine sehr große Öffentlichkeit erreichen können, die sich vorbei an den als nicht glaubwürdig gesehenen Medien informieren und dann eben auch aufhetzen lassen durch solche Verschwörungstheorien.
“Das hat sehr reale Folgen für die Menschen hier”
DLF: Und das wird ernst genommen?
Küpeli: Das wird ernst genommen. Es ist jetzt nicht so, dass wir sagen können, das sind ein paar einzelne Spinner oder Leute, die Spaß an solchen Verschwörungstheorien haben, irgendwelche Nerds, die da an irgendwelchen Theorien basteln, sondern es ist massentauglich, und es wird als politisch ernstzunehmend gesehen und so auch eingesetzt. Also wenn zum Beispiel jetzt beim Fall Deniz Yücel, dem inhaftierten “Welt”-Korrespondenten, gesagt wird, er sei ein PKK-Anhänger oder PKK-Mitglied, dann ist das natürlich eine hanebüchene Verschwörungstheorie. Aber das wird ernst genommen und wird auch von den Staatsanwaltschaften in der Türkei auch als Vorwurf konstruiert. Und ähnlich ist es auch hier. Wenn solche Anschuldigungen auftauchen, dann wird das ernst genommen, und das hat sehr reale Folgen für die Menschen hier.
DLF: Lassen Sie uns nochmal auf dieses Verfassungsreferendum kurz kommen. Es werden vielfach Fotos geteilt, die wohl aus Wahlkabinen in Deutschland stammen. Da sind dann zum Beispiel drei Halbmonde, also Zeichen national-islamistischer Ideologie zu sehen, und dann sieht man da neben dem “Evet”-Stempel, also neben dem “Ja”-Stempel für die Verfassungsänderung, lassen sich dann Sätze lesen wie “Ich habe den Stempel draufgehauen wie die Faust auf die Ungläubigen.” Nehmen wir solche Tendenzen in Deutschland eigentlich ernst genug?
Küpeli: Ich fürchte, nicht. Auch da ist es so, dass diese Parole, dass man diese Stempel so stark draufhauen soll, als würde man einen Ungläubigen treffen wollen – auch das ist eine Parole, die von Regierungsanhängern in der Türkei stammt und auch hier jetzt in Europa übernommen wurde. Das ist tatsächlich so, dass wir es nicht ernst nehmen. Man kann jetzt viel darüber streiten, ob es legitim war, etwa den Auftritt der türkischen Minister in Deutschland zu unterbinden. Aber wenn wir uns allein auf die Fälle beschränken würden, die Sie jetzt auch angesprochen haben, also etwa die Grauen Wölfe, die solche Zeichen wie den Wolfsgruß und die drei Halbmonde zeigen, dort in diesem Spektrum sind viele militante Gruppierungen, die auch offen mit Gewalt drohen und auch durchaus wiederholt zu Gewalt gegriffen haben. Zumindest in diesem Bereich verstehe ich nicht, warum wir nicht zu einem anderen Umgang mit solchen Gruppen finden. Weil wenn die deutsche Öffentlichkeit, aber auch die deutschen Behörden nicht reagieren, dann ist das natürlich eine Ermutigung für solche Leute, dann weiterzugehen und den nächsten Schritt auszuprobieren, also insofern den Weg, vom Wort, von der Hetze zur Tat zu schreiten. Und hier müsste eigentlich etwas dagegen unternommen werden, dass zumindest dieser Schritt zur Tat unterbunden wird. Und das sehe ich leider nach wie vor nicht in Deutschland, dass wir zumindest in dem militanten Bereich zu einer starken Antwort kommen.
DLF: Was ist da, Herr Küpeli, letzte Frage, was ist da Ihre Erklärung dafür?
Küpeli: Ich glaube, dass wir sehr lange so getan haben, als würden die türkeistämmigen Menschen hier nicht zur deutschen Gesellschaft dazugehören, als würden sie irgendwann doch zurückkehren in die Türkei, als sei es möglich, auch die Verwaltung und auch die kulturelle Versorgung dieser Menschen dem türkischen Staat zu überlassen, als sei das ein guter Weg. Das ist leider zu spät verstanden worden, dass das kein guter Weg ist, dass wir zum Beispiel die Organisation der Moscheen nicht über den türkischen Staat abwickeln können, dass wir dort zu einem anderen Umgang finden müssen. Das ist leider bis jetzt nicht so, dass wir verstanden haben, dass die Menschen hier bleiben werden und dass wir als deutsche Gesellschaft zu einem guten Zusammenleben kommen müssen. Und nach wie vor, wenn ich mir solche Äußerungen anhöre wie zum Beispiel, dass es sich um innertürkische Konflikte handelt, dann ist da auch relativ viel Ignoranz und auch der fehlende Wille, dort wirklich hinzuschauen. Es ist natürlich schwierig für die deutsche Politik, die in vielen Fällen nicht über das Wissen, auch nicht über die Sprachkenntnisse verfügt, um wirklich sinnvoll dort zu interagieren. Aber es führt kein Weg daran vorbei. Diese Menschen werden hier in Deutschland leben auch in den nächsten 30, 40 Jahren, und wir werden zu einem Umgang finden müssen. Und die Antwort der Demokraten auf militante rechte Gruppierungen muss kommen.
DLF: Das sagt Ismael Küpeli, Politikwissenschaftler an der Ruhr-Universität Bochum und Türkei-Kenner. Herr Küpeli, vielen Dank für das Gespräch!
Küpeli: Gern!
Freitag, 26.5. im ADA: Frankreich zwischen den Wahlen
Frankreich zwischen den Wahlen mit Bernard Schmid (Paris) am Freitag, den 26. Mai im ADA (oben)
Wiesenstraße 6, Wuppertal-Elberfeld, 20:00 Uhr. Eintritt: Spende
Am Freitag, den 26.5., setzen wir unsere Veranstaltungsreihe „Politik in der Rechtskurve“ mit einer Veranstaltung zur Situation in Frankreich zwischen den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen fort. Eingeladen haben wir Bernard Schmid (Paris).
Kaum eine europäische Wahl wurde 2017 so oft zu einer europäischen Schicksalswahl erklärt wie die französische Präsidentschaftswahl. Die deutsche Öffentlichkeit zitterte vor einem Wahlerfolg Marine Le Pens vom rechten Front National. Nachdem jedoch am 7. Mai der selbsterklärte Präsidentschaftskandidat Emmanuel Macron als Sieger der Wahl feststand, sind Politik und Börsen mit vernehmbarem Erleichterungsseufzer zum Normalbetrieb zurückgekehrt: unmittelbar nach den Gratulationen waren aus Berlin erste Forderungen nach weiteren neoliberalen „Reformen“ in Frankreich zu hören.
Dabei wurde vor dem zweiten Wahlgang vielfach betont, die Wahl Macrons würde lediglich „fünf Jahre“ Aufschub bedeuten. Wenn es keine merklichen Anderungen der Politik in Frankreich und innerhalb der EU gäbe, müsse man sich spätesten 2022 auf einen Wahlsieg des neofaschistischen Front National einstellen. Doch nicht erst die Ermahnungen aus Berlin lassen ahnen, dass an echten Änderungen auf bürgerlicher Seite kein Interesse besteht.
Die Zusammenstellung des ersten Kabinetts des neugewählten Präsidenten und seine Strategie für die im Juni bevorstehenden Wahlen zur Nationalversammlung deuten vielmehr auf einen Versuch hin, „notwendige Reformen“ mit einem vollkommmen auf seine Person zugeschnittenen, eher autokratischen System unter Auflösung bisheriger Parteien und des bisherigen Politikverständnisses anzustreben.
Wie reibungslos Macron seine angekündigten Reformen, zum Beispiel die aus Berlin geforderte „Flexibilisierung des Arbeitsmarkts“ wird umsetzen können, entscheidet sich nicht zuletzt bei den Parlamentswahlen. Bei diesen werden die gerade verteilten Karten neu gemischt, vor allem, weil Marine Le Pen – anders als ihre zwei größten Widersacher, Emmanuel Macron und Jean-Luc Mélenchon – über eine Parteibasis verfügt, die für Kandidaten-Aufstellung und Wahlkampf in den 577 Wahlkreisen benötigt wird.
Hinzu kommt: Auch die Wahl zur Nationalversammlung wird in einer Stichwahl entschieden, bei der aber (anders als zur Präsidentschaftswahl), auch mehr als zwei KandidatInnen zur Wahl stehen können (für die Teilnahme reicht ein Ergebnis von mehr als 12,5% der eingeschriebenen WählerInnen im ersten Wahlgang). Nachdem sich die Républicains wie auch die Parti socialiste anscheinend in Auflösung befinden, ist kaum vorhersehbar, wie die Stichwahl ausgehen wird. Die am 7. Mai ausgebliebene negative Überraschung könnte am 18. Juni also durchaus doch noch eintreten.
Frankreich wird so zum Schauplatz entscheidender Weichenstellungen in Europa, bei denen neofaschistische und zunehmend autokratische Politikvorstellungen um die Vormacht kämpfen. Doch in Frankreich gibt es durchaus auch eine Linke, die die nächsten fünf Jahre ebenfalls nutzen könnte, die Leerstellen eines zerfallenden Systems zu besetzen. Die traditionell tief gespaltene französische Linke müsste sich nach der Selbstversenkung der Parti socialiste dazu allerdings grundlegend neu aufstellen.
Das Wissen um die französische Linke ist nicht besonders groß in Deutschland. Kaum jemand weiß beispielsweise, für was Mélenchon steht, der hier zumeist als „radikal links“ bezeichnet wird, und am 23. April nur sehr knapp am Einzug in die Stichwahl scheiterte. Auch Bewegungen wie die letztes Jahr kurzzeitig für einige Furore sorgenden „Nuit Debout“-Platzbesetzungen finden in der hiesigen Linken häufig zu wenig Interesse – von den teils heftigen Widerständen gegen Polizeigewalt in vielen Banlieues und Vierteln ganz zu schweigen.
Zwischen den beiden wichtigen Wahlen haben wir Bernard Schmid nach Wuppertal eingeladen, um mit ihm über einige der vielen Fragen und die Gesamtsituation im Nachbarland zu reden. Bernard Schmid, Autor des Unrast-Verlages und Jurist, hat u.a. für antirassistische NGOs und die Gewerkschaft CGT gearbeitet. Er publiziert regelmäßig zu aktuellen politischen Entwicklungen in Frankreich. Am 26. Mai wird er eigens zu unserer Veranstaltung aus Paris anreisen.
Politik in der Rechtskurve III: Frankreich zwischen den Wahlen. Mit Bernard Schmid (Paris), Eintritt: Spende
Freitag, 26.5., 20 Uhr, Café ADA (oben), Wiesenstraße 6 in Wuppertal-Elberfeld.
In Zusammenarbeit mit Arbeit und Leben DGB/VHS NW
Dienstag, 2.5. im Stil Bruch: Die Unmöglichkeit des Notwendigen
LINKE wählen? Streitgespräch mit Bernhard Sander am Dienstag, 2. Mai im Stil Bruch
Otto-Böhne Platz, Wuppertal-Elberfeld, 20:00 Uhr. Freier Eintritt
Es gibt gute Gründe dafür, 2017 den antiparlamentarischen und Anti-Parteien-Reflex in der radikalen Linken zu hinterfragen. Zu auffällig ist die Diskrepanz zwischen dem verbreiteten Alarmismus wegen eines voraussichtlichen Einzugs der neorechten AfD in den nordrhein-westfälischen Landtag im Mai und in den Bundestag im September und der häufig propagierten Abwendung von Wahlen, Wahlkämpfen und Wahlergebnissen, die in Aufrufen und Publikationen nach wie vor eine radikal linke Haltung darstellen soll. Auch angesichts einer für viele Aspekte emanzipatorischer Politik gefährlichen Polarisierung der Gesellschaft und von nach rechts verschobenen Diskursen wird nur selten ernsthaft über Sinn und Unsinn einer Unterstützung der einzigen Partei in der BRD diskutiert, die bei aller berechtigten Kritik doch auch ein grundsätzliches antifaschistisches Selbstverständnis im Parlamentssystem repräsentiert. Während es den Anschein hat, dass die lange zersplitterte Rechte diesmal gemeinsam auf ihr neues Vorzeigemodell AfD setzt, wird auf linker Seite weiter Unvereinbarkeit gelebt. Die LINKE macht es den Linken jedoch auch nicht einfach, sie zu unterstützen.
Die Kritik an der Partei geht über eine – oft auch verkürzende – Kritik an einzelnen Personen wie Sara Wagenknecht oder Oskar Lafontaine hinaus. Ein ungebrochener nationaler Fokus bei ihren Vorstellungen von Sozial- und Wirtschaftspolitik, ein unhinterfragter Fetisch um den kapitalistischen Arbeitsbegriff oder ein fragwürdiges Solidaritätsgehabe einiger Gruppierungen in der Partei, die in einem unreflektiertem Antiimperialismus verharren, sind nur einige der Kritikpunkte. Hinzu kommen die Einzelpersonen, die bewusst eine missverständliche Kommunikationspolitik in Kauf nehmen, weil um AfD-WählerInnen geworben werden soll, oder jene Mitglieder und Funktionsträger der LINKEN, die sich nicht nur an Montagen besinnungslos auf jede Ansammlung „besorgter Menschen” stürzen – allen erkennbaren Querfronttendenzen zum Trotz. Und dann gibt es auch noch jenen Flügel, der in Kretschmann’scher Manier alles auf Regierungsbeteiligungen setzt und der bereit scheint, auch Prinzipien dafür über Bord zu werfen. Gerade das katastrophale Scheitern Syrizas in der griechischen Regierungsverantwortung, das sicher für die Rechtskurve der europäischen Politik mitverantwortlich ist, macht die Aussicht auf eine LINKE als kleiner Partner einer möglichen rot-rot-grünen Konstellation nicht gerade verlockend.
Dagegen steht u.a. die These, dass allein die Existenz einer Wahlalternative von links bislang das Erstarken einer rechten Protestpartei in Deutschland verhindert hat: Ohne die LINKE würde es eventuell auch in der BRD der Agenda 2010 einen „Front National” schon seit zehn Jahren geben. Gerne vergessen wird häufig auch, dass viele LINKE-ParlentarierInnen wichtige und aufklärerische Politik machen und Multiplikatoren für antifaschistische Positionen sind. So wären viele Kenntnisse über Regierungshandeln ohne beharrliche Anfragen auf parlamentarischer Ebene nie an die Öffentlichkeit gelangt und für von §129a oder 129b-Verfahren Betroffene gäbe es ohne die LINKE gar keine AnsprechpartnerInnen in den Parlamenten. Nicht zuletzt hat ein in Kooperation mit antifaschistischen Strukturen beharrliches Nachfragen zu den Vorgängen rund um den „NSU-Komplex” dazu geführt, dass das Thema bis heute auf der Tagesordnung steht. Vor dem Hintergrund, dass die Rechte ihrerseits Möglichkeiten der Parlamente beständig für Anti-Antifaarbeit nutzt und das nach den Wahlen in NRW und zum Bundestag voraussichtlich weiter ausdehnen kann, ist diese parlamentarische Präsenz sehr wichtig. Aus der Erfahrung einer sehr dürftigen lokalen Debatte über den Umgang mit der AfD ergibt sich dann jedoch auch eine Thematisierung des zukünftigen Umgangs mit Rechten in Parlamenten.
Wie also mit den bevorstehenden Landtags- und Bundestagswahlen umgehen? Und wie mit einer Partei die LINKE, die Linke beständig in Abwehrhaltungen versetzt? Gibt es die Situation vor, ein breites Bündnis gegen den Rechtsruck zu einer Notwendigkeit zu machen, speziell in einem Moment, in dem die bürgerliche Rechte inhaltlich stark auf neorechte Parteien zugeht wie in den Niederlanden oder Bayern? Doch wie unmöglich ist das Notwendige? Es gibt konkrete Fragen nach den Zielen der Partei, danach, was sie für AntifaschistInnen tun kann und was diese für die LINKE tun könnten oder sollten. Knapp zwei Wochen vor der Landtagswahl in NRW wollen wir in einem Streitgespräch u.a. diese Fragen mit dem Wuppertaler Stadtrat der LINKEN, Bernhard Sander diskutieren, der auch parteiintern als kritischer Kopf gilt, es andererseits aber auch radikalen Linken nicht immer leicht macht.
Donnerstag, 27.4. im ADA: Die Türkei nach dem Referendum
Die Türkei nach dem Referendum mit Ismail Küpeli am Donnerstag, den 27. April im ADA
Wiesenstraße 6, Wuppertal-Elberfeld, 20:00 Uhr. Eintritt: Spende
(Es gibt jetzt auch eine türkische Version als pdf-Datei: Ankündigung türkisch als pdf-Datei
The winner takes it all
Am Ostersonntag ist in der Türkei jene Entscheidung gefallen, die sowohl innen- als auch außenpolitisch seit langem im Zentrum der Entwicklungen in der Türkei stand. In einem Referendum haben sich angeblich 51% der Wählenden für die Einführung einer autoritären, durch parlamentarische oder juristische Instanzen nicht wirksam kontrollierten Präsidialdemokratie entschieden. Das knappe Ergebnis wird jedoch von Manipulationsvorwürfen überschattet – unter anderem wurden vor allem im (kurdischen) Südosten der Türkei kurzfristig mindestens 1,5 Millionen Wahlzettel akzeptiert, die nicht offiziell validiert waren. Recep Tayyip Erdogan hat jedoch schon am Wahlabend keinen Zweifel daran gelassen, dass Einwände gegen das Referendum nicht zugelassen werden. Vielmehr wertet seine Partei AKP das angebliche Votum als eine nachträgliche Legitimation autoritärer Politik, des Kriegs in den kurdischen Gebieten und der Massenentlassungen und -verhaftungen. Es ist zu befürchten, dass im Verlauf der bis 2019 geplanten Einführung der neuen Präsidialmacht weitere Schritte zu einer offenen Diktatur gemacht werden; am Tag nach dem Referendum wurde zunächst erneut der Ausnahmezustand in der Türkei verlängert. Wie der Weg in die Diktatur aussehen wird, hängt nicht zuletzt von der Reaktion jener Hälfte der Bevölkerung ab, die am 16.4. mit „Nein“ stimmte – unmittelbar nach der Verkündung des Ergebnisses haben in größeren türkischen Städten tausende Menschen auf der Straße gegen die Wertung der Wahl protestiert. Ein breiter Widerstand scheint jedoch bereits weitgehend unmöglich, zumal die größte Oppositionspartei, die republikanische CHP, regelmäßig zwischen Kooperation und Widerspruch pendelt.
Erwachende Ressentiments
Der sehr verbissene Wahlkampf um ein „Evet“ oder „Hayir“ hat aber zunehmend auch in Deutschland Spuren hinterlassen, wo etwa 1,4 der 3,5 Millionen Menschen türkischer Abstammung am 16.4. wahlberechtigt waren. Bespitzelungen durch den türkischen Geheimdienst „MIT“ und Einreiseverbote in die Türkei sowie aus Ankara offen befeuerte Denunziationen, Boykottaufrufe oder Gewaltandrohungen haben den Autoritarismus tief in die türkisch/kurdischen Communities deutscher Städte und in Belegschaften deutscher Betriebe getragen. Von der deutschen Mehrheitsgesellschaft eher unbemerkt wurden viele „Nein“-WählerInnen in Furcht versetzt – wenn nicht um sich, dann doch um Freunde und Angehörige in der Türkei. Eine niedrige Wahlbeteiligung von nur 46% bei den hier lebenden Türkinnen und Türken und mehr als 60% der abgegebenen Stimmen für die Änderung der Verfassung in der Türkei waren eine Folge. Dieses Ergebnis wiederum hat in Deutschland viele Ressentiments auf den Plan gerufen, die in den letzten Jahren verblasst schienen. Oft war die Rede davon, „die Mehrheit der Türken“ in Deutschland habe sich für Erdogans Pläne entschieden, was angesichts der Zahl der Wahlberechtigten und der Wahlbeteiligung nicht zutrifft, aber dennoch zur Grundlage von zum Teil absurden Forderungen gemacht wird.
Diskussion mit Ismail Küpeli
Zehn Tage nach dem Referendum wollen wir bei unserer Veranstaltung im ADA darüber diskutieren, wie es in der Türkei unter der Alleinherrschaft eines Präsidenten weitergehen kann und welche Möglichkeiten der Opposition noch verbleiben. Ebenso wichtig ist uns auch eine Diskussion zu den Verwerfungen in der türkisch-stämmigen Community in Deutschland, die noch lange nach dem Referendum fortwirken werden, und darüber, wieso dem „langen Arm Ankaras“ in Deutschland nicht genug entgegengesetzt wurde und wird.
Mit Ismail Küpeli haben wir einen der profiliertesten Publizisten zur türkischen Politik zu Gast, der das Ergebnis des Referendums für uns einordnen soll. Ismail Küpeli ist jedoch nicht nur ein aufmerksamer Beobachter und Berichterstatter zur türkischen Politik, er hat zuletzt auch selber unliebsame Erfahrungen mit regierungsnahen türkischen Pressuregroups gemacht. Anfang 2017 hatte er deshalb einen viel beachteten Rückzug aus sozialen Netzwerken verkündet. Mittlerweile berichtet Ismail Küpeli auch wieder bei Twitter und Facebook über das Geschehen in der Türkei.
Von den Phillipinen lernen – Veranstaltungbericht Teil 2
In den Phillipinen regiert seit einem dreiviertel Jahr ein Präsident mithilfe eines Phantasmas, nach dem Drogenhändler und Drogennutzer für fast alle gesellschaftlichen Probleme des Landes verantwortlich sind. Bei der ersten Veranstaltung unserer Reihe „Politik in der Rechtskurve“ hat der in Manila lebende Soziologe Niklas Reese ausführlich darüber berichtet. Mit seiner Art zur Etablierung eines autokratischen Systems ist Rodrigo Duterte sicher ein Vorreiter von Politikkonzepten, die auch in anderen Teilen der Welt Erfolge erzielen, in der Türkei, in den USA und nicht zuletzt auch in weiten Teilen Europas. Im zweiten Teil unseres Artikels beschäftigen wir uns mit der Frage, was wir aus Dutertes Erfolg lernen können, um ähnliche Erfolge rechter Politik zu verhindern.
Trotz aller Unterschiede zu rechten oder „rechtspopulistischen“ europäischen oder US-amerikanischen Entwicklungen – so präsentiert sich Duterte zum Beispiel als Vorreiter für sexuelle Selbstbestimmung und Frauenrechte und pflegt gute Beziehungen auch zu den muslimischen Bevölkerungsteilen auf Mindanao – zeigte der erste Vortrag unserer Reihe durchaus Parallelen zu politischen Entwicklungen in Europa oder den USA auf. Nur vorgeblich „aus dem Nichts“ der Provinz kommend, hat Duterte bisherige Seilschaften und Sphären politischen Einflusses der von ihm so genannten „alten Eliten“ hauptsächlich deshalb aufmischen können, weil es seiner Kampagne gelang, eine auf ihn und sein Programm zugeschnittene Beschreibung der phillipinischen Realität durchzusetzen. In der sind die „Elitisten“ identisch mit den „Feinden des Volkes“, zumindest paktieren sie miteinander. Dutertes ziemlich bizarre Erzählung von der Verantwortlichkeit der Drogenhändler und -nutzer für alle gesellschaftlichen Probleme ist dabei das Äquivalent jener Schimären, mit denen rechte Bewegungen in den USA oder in Europa komplexe Zusammenhänge auf einfache Verantwortlichenkeiten und Schuldzuweisungen reduzieren. In ihren Parallel-Wirklichkeiten kann ein „Feind“ eindeutig benannt werden – um welchen es sich jeweils handelt, erscheint austauschbar. Die Konstruktion eines “Feindes” erfordert in jedem Fall „Lösungen“ die es erforderlich machen können, zuvor allgemein anerkannte Grenzen zu überschreiten. Die halluzinierte Bedrohung für das gleichermaßen hochstilisierte wie andererseits auf eine handhabbare definierte Größe reduzierte Gemeinwesen, wo man sich kennt und dem Handeln moralische Erwägungen zugrundeliegen, erfordert kollektive Verteidigung. Dabei scheint es egal, ob es sich dabei um eine “Region”, eine “Nation”, “das Abendland” oder eine Religion handelt. Demokratische oder rechtsstaatliche Prinzipien sind dabei hinderlich. Sie werden deshalb mit dem „Feind“ assoziiert. Rodrigo Duterte sieht Menschenrechts-NGOs als Teil einer westlichen Verschwörung mit den Drogenkartellen am Werk, Recep Tayip Erdogan unterstellt der Presse, im Auftrag von “Terroristen” zu berichten, für AfD und Pegida haben sich „Gutmenschen“ und “Lügenpresse” verschworen, den “Volkstod” zu betreiben.
Ein frontaler strategischer Angriff Gläubiger
Hinter den, die rechten Politikkonzepte befeuernden absurden Beschreibungen der Wirklichkeit verbirgt sich mehr als ein irres Phantasma. Sie sind ein frontaler strategischer Angriff auf Grundrechte und Demokratie. In (West-) Europa oder den USA befindet sich dieser Angriff bislang noch im Stadium des Versuchs zur Durchsetzung alternativer Realitätsbeschreibungen; von vielen wird er bislang nicht als Strategie erkannt. In den Phillipinen ist die Entwicklung weitergediehen. Dort ist bereits zu erleben, wie der Umbau kollektiver Wirklichkeitsbeschreibungen und die daraufhin eingeleiteten „Maßnahmen zur Verteidigung des Vokes“, eine zuvor nur phantasierte Bedrohung für die Bevölkerungsmehrheit nach und nach ganz real werden lassen. Die reale Verunsicherung nähert sich sukzessive dem vorher nur suggerierten „gefühlten“ Bedrohungsszenario an. Die Lage der Einzelnen wird tatsächlich bedrohlich, ohne dass sich die Betroffenen jedoch gegen jene wenden würden, die das ganze Szenario überhaupt erst erschaffen haben, wie aktuelle Umfragen in den Phillipinen belegen. Ausschlaggebend dafür ist die Wirkmächtigkeit des einmal etablierten Phantasmas; die anwachsende Unsicherheit wird nicht auf die tatsächliche Bedrohung, also auf Dutertes „Death-Squads“, zurückgeführt, sondern deren vorgeblich notwendige Härte ist vielmehr Ausweis der wachsenden Stärke und Bedrohlichkeit des imaginierten „Volksfeindes“. Mithilfe des zur Wirklichkeit mutierten und zur Grundlage staatlichen Handelns gemachten Phantasmas wird nach und nach die Lebenswirklichkeit der Menschen real verändert. Die „Macht der Drogenhändler” wird als ursächlich für die eigene zunehmende Bedrohung durch den „Krieg gegen Drogen” angesehen. Folge ist, dass außerhalb der alternativen Wirklichkeitserzählung angesiedelte Alternativen zu noch größerer Härte und zu noch mehr Morden kaum noch vorstellbar sind. Beängstigend ist, mit welcher Geschwindigkeit dieser Prozess nach dem ersten Erfolg der Duterte’schen Erzählung in den Phillipinen ablief: Vom Phantasma vor der Präsidentschaftswahl bis zur tatsächlichen Realitätsveränderung dauerte es nur wenige Monate.
Eine Kritik an rechten Politikkonzepten, die sich hauptsächlich an den „verrückten Argumenten” oder an der vorgeblichen Dummheit der damit Argumentierenden festmacht, erweist sich deshalb als verhängnisvoll. Sie verkennt einfach , dass es einen “Plan” gibt und dass es sich um wohlüberlegte Strategien zur Umwälzung der Gesellschaft handelt. Der Plan fußt nicht auf argumentativer Rationalität, sondern auf Gläubigkeit. Dutertes Erzählung von der „Schuld der Drogenhändler” basierte nie notwendigerweise auf Fakten, ebenso wenig wie die Behauptung einer Bedrohung durch MigrantInnen in Europa. beides wird schlicht geglaubt. Die Diffamierung zuvor glaubwürdiger Quellen wie NGOs oder unabhängiger Medien ist dabei kalkulierter Teil der Strategie. Sie bereitet die Immunisierung der an die jeweilige „alternative Realität” Glaubenden gegen jeglichen Einwand vor. Dieser Irrationalität Gläubiger argumentativ entgegenzutreten ignoriert vollkommen, dass alle Versuche dazu beim Gegenüber glaubensverstärkend wirken, denn sie stellen eine Handlung „feindlich eingestellter Menschen“ dar, deren einziges Ziel es ist, das Erkennen der imaginierten „Wahrheit“ zu verhindern. Basis dafür ist ein empfundenes „Innen” und ein abgrenzend definiertes „Außen”. Religiöse Sekten funktionieren genauso. Wer die Glaubengrundsätze zu diskussionswürdigen Meinungen gesellschaftlicher Diskurse macht, besorgt daher das Geschäft der rechten Strategen. Die Kontrahenten einer Diskussion werden im Glauben bestärkt aus der Debatte hervorgehen, gleichzeitig werden ihre Thesen für neutralere Beteiligten mehr und mehr zu normalisierten Debattenbeiträgen. Auch das ist rechtes Kalkül: Es geht nicht darum, dass die neutralere Beteiligten – die sich gerne „unpolitisch“ oder „nicht rechts und nicht links“ nennen – anfangen, den Glauben zu übernehmen. Vielmehr sollen sie durch die vorgetragenen differierenden „Fakten“ zunehmend verunsichert werden. Am Ende soll möglichst niemand mehr wissen können, was denn nun stimmt. Dieses Verwischen und unkenntlich machen gehört zur rechten Diskursstrategie: Die „Neutralen“ sollen so aus Diskussionen herausgehalten und wortwörtlich „neutralisiert” werden.
Wo es kein „Vorwärts“ mehr geben darf, bleibt nur ein „Zurück“
Die „alternativen Realitätsbeschreibungen” diskursiv zu ignorieren, heißt freilich nicht, die Ursachen ihrer zunehmenden Akzeptanz auszublenden. Es ist notwendig, sich mit den Gründen für den Erfolg halluzinierter „Parallel-Realitäten“ zu beschäftigen. Das passiert scheinbar auf allen Kanälen und in jeder zweiten Talkshow. Doch die angegriffenen Gesellschaften offenbaren bei den Debatten um die Gründe für den Erfolg der von ihnen so genannten „Populisten” einen blinden Fleck, der sie im Zweifel die inhaltliche Diskussion einer analytischen vorziehen lässt. An zu vielen Stellen befinden sie sich selbst in Erklärungsnot – ein Großteil des Bestehenden basiert seinerseits auf nicht-faktischen, „alternativlosen” Realitätsbeschreibungen. Während es der so genannten „Elite“ der Phillipinen nie gelang, weit verbreitete große Armut als Folge von Korruption und herrschenden neoliberalen Verhältnissen wahrzunehmen, haben die europäischen Gesellschaften ihre blinden Flecken, wenn es beispielsweise um eigene Verantwortlichkeiten für weltweite Fluchtursachen geht und konkret hilfreiche Gegenmaßnahmen einzuleiten; also Waffenhandel zu stoppen oder wirklich wirtschaftlich fair zu handeln. Die Verlagerung der Probleme von den Fluchtursachen auf die Flüchtenden bietet sich so zwangsläufig an. Anfälligkeit für einfache Realitätskonstruktionen kann auch eine Flucht vor dem Anerkenntnis eigener Verantwortung sein. Dass Mittelschichten angesichts fehlenden Problembewusstseins und fehlender wirklicher Lösungsansätze in besonderem Maß für einfache Realitätsbeschreibungen anfällig sind, ist demnach weniger einer immer wieder von Politik und Medien angeführten „Angst vor einem Absturz“ geschuldet, sondern vielmehr Ausdruck eines nicht eingestandenen Wissens um eigene Verantwortlichkeit und der eigenen Unfähigkeit, daraus Konsequenzen zu ziehen. Die Mär von der “Absturzangst” perpetuiert vielmehr die eigene alternativlose Erzählung neoliberaler Gesellschaften: Für ihre Politik und Medien ist es einfacher zu behaupten, Menschen hätten Angst vor einem gesellschaftlichen Abstieg als real vorhandene Ängste vor notwendigen Veränderungen anzusprechen. Ohne eine Thematisierung der Ursachen tatsächlich bestehender Probleme können die attakierten bürgerlichen Schichten für uns jedoch keine Hilfe im Kampf gegen eine „Politik in der Rechtskurve“ sein.
Und noch etwas bleibt oft ausgeblendet: Die Rückkehr des Nationalen und der einfachen Wirklichkeitsbeschreibungen sind auch Ausdruck zuvor gescheiterter Aufbrüche und gescheiterter Alternativen. Selten wird bei der Erforschung von Ursachen aktueller Entwicklungen auf das geschaut, was vor einer Generation die heute handelnden Personen (mit-) geprägt hat. Es ist sicher kein Zufall, dass die Wiederkehr offen autoritäter Politik in den Phillipinen möglich war, nachdem eine Generation das Scheitern der mit dem Sturz von Ferdinand Marcos vor gut dreissig Jahren verbundenen Hoffnungen ihrer Eltern erlebte, oder dass es auch in den osteuropäischen Ländern wie Polen, Rumänien oder der Slowakei eine „Nach-Aufstands-Generation“ ist, die sich nationalistischen und einfachen Denkmustern zuwendet. Auch das Scheitern vieler, mit großen Hoffnungen verbundener Aufbrüche ist mit dem Beharren herrschender Gesellschaftsschichten auf das Bestehende eng verbunden. Vielfach haben sie schnell direkte und indirekte Wege gefunden, ihre Macht zu erhalten und aus vorgeblichen Befreiungen und Umgestaltungen lediglich eine Neuauflage des Alten zu machen. Zu viele, einer Zukunft zugewandte Versuche wurden schleichend wirtschaftlich oder ganz brutal mit Tränengas und Gummigeschossen auf der Straße beendet. Die Anfälligkeit für in der Vergangenheit angesiedelte Versprechen darf vor diesem Hintergrund nicht überraschen. Wenn diese Hypothese zutreffend ist, lässt sie angesichts der fortgesetzten Reihe gescheiterter und verratener Revolten in den letzten Jahren (etwa im so genannten „arabischen Frühling“) Böses erahnen. Eine fundierte linke und kritische Auseinandersetzung mit den gescheiterten Aufbrüchen ist deshalb überfällig. Die derzeit dringlichste Frage bleibt jedoch, wie die Durchsetzung rechter Wirklichkeitsbeschreibungen durchkreuzt werden kann und wann es für einen Kampf um vermeintliche Mehrheiten zu spät sein könnte. Wenn die bürgerlichen Mitte im zuvor geschilderten Sinn „neutralisiert” ist, kann es nicht mehr um Mehrheiten gehen. Es geht dann um kritische Massen. Angesichts der Hochgeschwindigkeit, mit der Autokraten dem Ausbau und Erhalt ihrer Macht dienende Maßnahmen durchsetzen, besteht die Gefahr, den Zeit für Strategiewechsel zu verpassen: Sowohl die Phillipinen als auch beispielsweise die Türkei sind in sehr kurzer Zeit von Ländern mit ´hohem Widerstandpotential zu in weiten Teilen paralysierten Gesellschaften geworden. Auf dem Weg dahin wurden jeweils mehrere Linien überschritten, von denen kurz zuvor noch angenommen wurde, dass ihr Überschreiten entschlossenen Widerstand auslösen würde.
Inzwischen ist in beiden Ländern eine „Exit“-Perspektive jenseits katastrophaler wirtschaftlicher oder gewaltsamer Entwicklungen kaum noch denkbar. Doch wann erreicht eine einmal von rechts etablierte Wirklichkeitsverzerrung den „point of no return“ jenseits zivilgesellschaftlicher Korrekturmöglichkeiten? Reicht ein Wahlsieg aus, oder müssen erst Maßnahmen wie Massentötungen in den Phillipinen oder Massenverhaftungen wie in der Türkei begonnen haben? Welche konkreten Schritte sind es, die rechte Herrschaft so absichert, dass eine Opposition sich und ihre Aktivitäten neu definieren muss? Sicher ist, dass der Prozess ein schleichender ist und dass es vor Erreichen des „point of no return“ kein lautes „Alerta!” geben wird. Die Beispiele von erfolgreich umgesetzten rechten Strategien können unsere Wahrnehmung schärfen. Unsere Veranstaltungsreihe wird fortgesetzt.
Dutertes Phantasma – Veranstaltungsbericht Teil 1
Der phillipinische Präsident Rodrigo Duterte ist sicher soetwas wie ein Vorreiter wahnhafter Politikinszenierungen zur Etablierung eines autokratischen Systems. Sein Konzept, das das Wirken von Drogenhändlern und -nutzerinnen für fast alle Probleme der phillipinischen Gesellschaft verantwortlich macht, führte Mitte 2016 zu seinem Sieg bei den Präsidentschaftswahlen. Der in Manila lebende Soziologe Niklas Reese war im Januar zu Gast bei der ersten Diskussion unserer Reihe „Politik in der Rechtskurve“.
Kurz nach unserer Diskussion mit Niklas Reese im Wuppertaler „ADA“ verkündete Duterte, er beabsichtige nunmehr, seinen ursprünglich bis März 2017 ausgerufenen „Krieg gegen Drogen“ bis zum Ende seiner Amtszeit im Jahr 2022 zu verlängern. Die bisherige Quote extralegal Hingerichteter hochgerechnet, ist diese Ankündigung für mindestens 60.000 Menschen gleichbedeutend mit einem Todesurteil. In den sieben Monaten seit seiner Wahl kam es in den Phillipinen zu 7.500 Morden an angeblichen „Drogenhändlern“, aber auch vermeintlichen „Drogensüchtigen“. Ob es sich bei den ermordeten um Menschen handelt, die mit Drogen etwas zu tun haben, ist oft völlig unklar, sagt Niklas Reese. An den Leichen, die jeden Morgen in den Straßen Manilas liegen, wird häufig lediglich ein Zettel mit einer entsprechenden Behauptung hinterlassen.
Laut Niklas Reese werden die „extralegalen Hinrichtungen” sehr häufig von Polizisten begangen, die sich mit den Exekutionen eine Prämie verdienen. Nachdem es einen Skandal um einen irrtümlich ermordeten südkoreanischen Geschäftsmann gab, hat Duterte jedoch inzwischen Umstrukturierungen im Hinrichtungsbusiness angekündigt. Er versucht damit, sich Teilen der hochkorrupten Polizei zu entledigen. Zukünftig könnte teilweise auch die Armee den Job machen. Doch im Geschäft mit extralegalen Tötungen sind ohnehin auch noch andere Gruppen tätig: Rivalisierende Gangs entledigen sich unter dem Deckmantel des „Kriegs gegen Drogen” ihrer Wettbewerber, und auch „einfache Leute denken jetzt, dass Töten die schnellste und effizienteste Art ist, mit Problemen fertig zu werden,“ zitierte Niklas Reese Ana Marie Pamintuan, Kolumnistin des „Philippine Star“. Ein Strafrechtssystem, das selbst bei Morden ohne Kläger oder Klägerin keine weiteren Ermittlungen vorsieht, macht die Willkür- und Selbstjustiz relativ risikolos. Schließlich können potentielle Kläger selber zum nächsten Opfer werden, wenn die Gefahr besteht, dass sie eine Tat zur Anzeige bringen.
Dutertes „Krieg gegen die Drogen“ ist planmäßig organisiert. „Jedes Stadtviertel ist angehalten, eine Liste mit den mutmaßlichen Drogenabhängigen und Dealern der Gegend anzufertigen. Wenn sich nicht genügend Verdächtige finden lassen [um die vorgegebene Quote zu erfüllen], sehen sich die Ortsvorsteher gezwungen, die Liste mit anderen aufzufüllen“, beschreibt Niklas Reese die hierarchische Organisation der Arbeit der Todesschwadrone. Die Armenviertel werden durchkämmt, BewohnerInnen bei „Besuchen“ von der Polizei eingeschüchtert und gewarnt, sie könnten „die nächsten“ sein. Über sechs Millionen Häuser hat die Polizei bereits aufgesucht. Ihre „Erfolge“ werden öffentlich ausgestellt. Duterte und die Polizeiführung sind stolz auf die Morde: An Manilas Police-Headquarter wird die Zahl getöteter „Drogenhändler“ großformatig an der Fassade verkündet und regelmäßig aktualisiert. Wer das Glück hat und nicht getötet wurde, wird verhaftet. Etwa 50.000 Menschen sind so in Gefängnisse verschleppt worden, die hoffnungslos überfüllten Kerkern ähneln.
Eine Million Filipinos hat sich bereits “ergeben”
Im Klima der Angst haben es viele vorgezogen, sich selbst zu bezichtigen. Ein Prozent der Gesamtbevölkerung, eine Million Filipinos also, hat sich so inzwischen der Polizei „ergeben“, wie es in der vorherrschenden Kriegsrhetorik heißt. Der „Krieg“, in den Rodrigo Duterte die Bevölkerung geführt hat, richtet sich vorgeblich gegen einen von der Drogenmafia kontrollierten Staat und gegen die, „die das erkannt haben und jenen, die nicht wollen, dass die Mehrheit klarsieht“, wie Reese das Feindbild der Regierung beschreibt. Ihre Feinde sind alte „Elitisten“, westliche Regierungen und ausländisch kontrollierte NGOs, die durch ihr Verhalten den von Duterte mit seinem Wahlslogan propagierten „wirklichen Neuanfang“ angeblich verhindern wollten. Menschenrechtsaktivistinnen und Rechtsanwälte, die bereit sind, sich der Bedrohten anzunehmen, wird mit ihrer Ermordung gedroht – indem sie sich um die Verdächtigen kümmerten, verzögerten sie schließlich die Lösung des Drogenproblems. Im Zweifel wird auch ihnen vorgeworfen, direkt in den Handel mit Drogen verstrickt zu sein.
Duterte ist es gelungen, im Laufe einer disneylandhaft für Soziale Medien und Boulevardpresse konzipierten Wahlkampagne das Drogenproblem zur Wurzel allen Übels zu machen. Seine Wahl etablierte dieses Phantasma dann quasi als “Wahrheit”. Für Dutertes AnhängerInnen führt nur die Lösung des Drogenproblems zur Lösung der Probleme der Phillipinen; denn erst, wenn alle Drogenhändler getötet seien, könne sich Duterte erfolgreich um alles andere kümmern. Soziale Ungleichheit und oligarchische Strukturen verschwänden, wenn erst das Ursprungsproblem der Drogensucht gelöst sein würde. Die Zahl der zu Tötenden bezifferte Duterte schonmal auf insgesamt vier Millionen Menschen; eine Zahl, die Duterte zu Respektbezeugungen für Adolf Hitler bewegte, der ein Problem in ähnlicher Größenordnung ja schon zu lösen versucht hätte. Die ständige Wiederholung falscher Tatsachen durch ihm ergebenen Medien im Wahlkampf erzeugte in den Phillipinen eine regelrechte Panik. Der Zahl von vier Millionen Drogenabhängigen steht beispielsweise die Erhebung der Drogenbehörde gegenüber, die selbst nur von knapp zwei Millionen Betroffenen spricht. Auch die Behauptung Dutertes, unter seinem Amtsvorgänger Aquino habe sich die Kriminalitätziffer verdreifacht und Drogenabhängige seien für 75% der schweren Verbrechen verantwortlich, hält keiner Überprüfung stand.
Doch die permanente Wiederholung „alternativer Fakten“ und die daraus abgeleitete Möglichkeit, Schuldige in Form der Drogenhändler und -nutzer für alle Übel der phillipinischen Gesellschaft präsentieren zu können, funktionierte erstaunlich gut. Noch 2015 machten sich laut Umfragen des Instituts „Pulse Asia“ nur 30% der Fillipinos Sorgen, sie könnten Opfer eines Verbrechens werden; die Bekämpfung von Kriminalität gehörte nur für 20% der Befragten zu den drei wichtigsten Aufgaben phillipinischer Politik. Vor der Wahl Mitte 2016 waren es dann schon 50% der Wahlberechtigten. Duterte war es offenkundig gelungen, im Verlauf eines Jahres die Agenda der phillipinischen Politik neu zu bestimmen. Die Erzählung von der „Schuld” marginalisierter Süchtiger war erfolgreich – Armut und „Charakterlosigkeit“ galten nicht länger als wesentliche Ursachen für Kriminalität. Weder von Duterte geäußerte brutale Vergewaltigungphantasien noch seine Behauptung, als ehemaliger Bürgermeister der Stadt Davao selber Morde begangen zu haben, führte zur einer Zurückweisung seiner Konstruktion der phillipinischen Realität. Bis heute hält die Wirkmächtigkeit der kollektiven „Gehirnwäsche“ an.
80% fühlen sich bedroht aber 85% stimmen Duterte trotzdem zu
Laut aktueller Umfragen vertrauen 85% der Filipinos weiterhin dem Präsidenten, obwohl fast 80% gleichzeitig fürchten, selber zum „Kollateralschaden“ im „Krieg gegen Drogen“ zu werden. So bezeichnet Duterte diejenigen, die „aus Versehen“ umgebracht werden. Sein Rückhalt ist dabei klassenübergreifend, Angehörige der Mittel- und Oberschicht unterstützen Duterte gar stärker als diejenigen, die nur eine Grundschulausbildung haben. „Er hat nicht unter den Ungebildeten und an den Rand Gedrängten am besten abgeschnitten“ sagt Reese. Sein landesweiter Anteil an Stimmen von 36% wurde bei Angehörigen der Mittelklasse um fast ein Drittel übertroffen und bei Wählern und Wählerinnen mit Collegeabschluss erreichte Duterte fast 50%. Unter gebildeten Städtern schnitt Duterte besser ab als in ländlichen Regionen. Noch finsterer waren die Ergebnisse bei den in der Diaspora lebenden Filipinos, die mit 75% für Duterte stimmten. „Es ist nicht das alte Landei oder das abgehängte Proletariat gewesen“, wie Reese ausführte, „Duterte ist Kandidat der Neureichen und der halbwegs Erfolgreichen“. Sein Konfrontationskurs mit den „alten Eliten“ veschaffte ihm zudem zeitweise auch die Unterstützung der alten linken Opposition. Seitdem Ex-Diktator Ferdinand Marcos, der von 1972 bis 1986 einen blutigen Krieg gegen die Linke führte, und mit dessen Familie der Duterte-Clan verflochten ist, jedoch auf dem Heldenfriedhof begraben werden durfte beginnt diese aber zu bröckeln.
Im Parlament bildet sich die exorbitante Zustimmung zum Wirklichkeitskonzept des Rodrigo Duterte durch 280 von 297 Abgeordneten des „Unterhauses“ ab; es ist seine so genannte „super majority“. In seiner Heimatregion, auf Mindanao, wo der sich gern als „Anti-Establishment“ inszenierende Duterte vor allem in der größten Stadt Davao-City über weitreichende Netzwerke verfügt, erhielt er bis zu 90% der WählerInnenstimmen. Dort war auch der Mythos entstanden, als Bürgermeister Davaos die Millionenstadt zu einer Art Musterstadt und mithilfe der jetzt landesweit angewendeten brutalen Methoden „drogenfrei“ gemacht zu haben. Reese, der vor seinem Umzug nach Manila selbst in Davao gelebt hat, sagt, dass aber auch hier „alternative Fakten“ wirksam geworden seien, denn Davao-City sei noch immer die Stadt mit einer der höchsten Verbrechensraten der Phillipinen. Das nährt dann auch den Verdacht, dass es sich beim „Krieg gegen Drogen“ Dutertes, ähnlich wie in Mexiko, auch vor allem um Methoden der Umverteilung von Macht zwischen verschiedenen Clans bzw. Kartellen handeln könnte.
Doch auch in diesem Fall hat sich die „alternative Realität“ Dutertes selbst in Europa und den USA etabliert. In den Kommentarspalten europäischer Zeitungen wird immer wieder auf seine erfolgreiche Zeit als Bürgermeister in Davao verwiesen, wenn Kritik an der brutalen Umsetzung geäußert wird. Das, auch hier von AfD-AnhängerInnen und anderen ständig wiederholte Phantasma von Duterte als erfolgreichem Bürgermeister, der nicht davor zurückschreckt, sich „die Hände schmutzig zu machen“, ist wesentlicher Bestandteil der Kampagne in den Phillipinen. Deshalb möchte Duterte auch nach seiner Wahl nicht als „President“ sondern weiterhin lieber als „Mayor“ angesprochen werden. Die Sicht auf das Gemeinwesen als überschaubare Größe, in der persönliche Erfahrungen Maßstab für Entscheidungen sein können, ist eine wesentliche Voraussetzung seines Erfolgs. Ein, auf eine handhabbare Größe geschrumpfter Bezugsrahmen dient in der Realitätsbeschreibung á la Duterte als Gegenentwurf zur einer anonymen, sich ständig verändernden Gesellschaft der Moderne. Erst die Konstruktion der Phillipinen als Ort, an dem „man sich kennt und von moralischen Erwägungen leiten lässt“, mache es Duterte möglich, seine alternative Beschreibung der Wirklichkeit durchzusetzen und sich als „Stimme des Volkes“ zu geben, so Niklas Reese abschließend.
Plausibilität und Alltagsverstand gelten dabei als störende Fakten, die im Zweifel nur deshalb angeführt werden, um das Volk und sein „Empfinden“ zu unterdrücken. Auf Fakten aufbauende Zwischeninstanzen oder juristische Beschränkungen der “notwendigen Maßnahmen” verfälschen deshalb den „wahren Volkswillen“. Von da bis zum Führerprinzip ist es nur eine kurze Strecke. Rodrigo Dutertes wiederholte Ankündigungen zur Ausrufung des Kriegsrechts oder sein Plan, Haftprüfungen abzuschaffen, sind bereits Marken auf diesem Weg. Gelingt es nicht, das von Duterte geschaffene Phantasma zu durchbrechen, steht den Phillipinen eine dunkle Zeit bevor, die auf Sicht auch für Niklas Reese eine Form von Bürgerkrieg unausweichlich erscheinen lässt. Doch schon vorher wird Dutertes alternative Erzählung der Wirklichkeit bereits zu viele Opfer gefordert haben.
Teil 2 des Veranstaltungsberichts – „Von den Phillipinen lernen”
Interview mit Niklas Reese im STANDARD
In der österreichischen Zeitung “Der Standard” ist am Wochenende ein Interview mit Niklas Reese und Dominik Hammann zu den Phillipinen und Rodrigo Duterte erschienen.
Haare schneiden aus Angst vor Dutertes Todesschwadronen
Der philippinische Präsident sitzt trotz umstrittener Maßnahmen fest im Sattel, sagen die Experten Reese und Hammann
STANDARD: Rodrigo Duterte führt nun seit Monaten seinen Drogenkrieg, es gibt tausende Tote. Die Zustimmung zu seiner Regierung ist hoch. Wegen oder trotz der Gewalt?
Niklas Reese: Es liegt vor allem am “Krieg gegen die Kriminalität”. Da ist es Duterte gelungen, dem Land ein Narrativ zu verkaufen: Unter seinem Vorgänger sei die Kriminalität auf das Dreifache gestiegen, 75 Prozent der schweren Verbrechen würden von Drogensüchtigen begangen. Es brauche einen, der aufräumt. Wer diese Zahlen hinterfragt, könne keinen anderen Grund haben, als dass er Teil der abgewählten Liberalen ist. Das wird geschluckt. Die Zustimmungsrate ist aber differenziert.
STANDARD: Inwiefern?
Reese: 80 Prozent sagen, dass es ihnen nicht gefällt, dass die Leute dabei alle ums Leben kommen. Und fast gleich viele, 78 Prozent, sagen, dass sie selbst Angst haben, sie könnten die Nächsten sein.
STANDARD: Wie passt das zu Zustimmungsraten von 83 Prozent?
Reese: Es ist offenbar ein Unbehagen da. Es könnte mich auch treffen. Aber solang es mich noch nicht trifft, ist es okay. Das zeigt auch, wie wenig verwurzelt die Menschenrechte sind.
STANDARD: Herr Hammann, Sie arbeiten im Bereich der Menschenrechte auf den Philippinen. Waren Sie überrascht, dass es so wenig Protest gibt?
Dominik Hammann: Ich arbeite vor allem mit Aktivisten, mit Bauern und Gewerkschaftern. Da habe ich schon das Gefühl, dass es Konzepte von Menschenrechten gibt. Es war erschreckend, wie hoch trotzdem die Zustimmung zu Duterte in progressiven Gruppen war.
STANDARD: Wegen seiner Versprechen einer Sozialreform?
Hammann: Er hat gute Beziehungen zu den radikalen Linken. Das sind jene, die bisher gegen solche Dinge demonstriert haben. Nun sind sie an der Regierung beteiligt und daher relativ still. Sie sind erst durch das Heldenbegräbnis für Exdiktator Ferdinand Marcos etwas aufgewacht.
STANDARD: Was ist aus den sozialen Versprechen geworden?
Reese: Er hat einiges angekündigt. Frieden mit muslimischen Separatisten und kommunistischen Rebellen, soziale Projekte. Eine Lösung des Stauproblems in Manila. Geschehen ist kaum etwas.
STANDARD: Unter dem Deckmantel des Drogenkrieges werden offenbar auch andere Rechnungen beglichen. Gibt es dazu Schätzungen?
Hammann: Zahlen gibt es nicht. Aber jeder kann zum Opfer werden, wenn er als Drogenabhängiger deklariert wird. Da ist die Gefahr groß, dass zum Beispiel Aktivisten denunziert werden. Was ich privat sehe: Musiker, die Bärte und lange Haare tragen, fangen an, sich zu rasieren oder die Haare zu schneiden. Das liegt an der Kultur der Angst. Wenn an einer Leiche eine Karte klebt, auf der “I’m a drug user” steht, dann kommt der Mordfall zu den Akten. Reese: Immer wieder gibt es dokumentierte Fälle, dass Polizisten von Leuten Schutzgeld verlangen. “Zahlt, sonst setzen wir euch auf die Todesliste!” Eine solche Liste der Süchtigen muss jeder Ort vorlegen. Auf diesen landen auch Unschuldige, weil es Quoten gibt, die der Ortschef zu erfüllen hat.
STANDARD: Duterte wettert auch gegen angeblich Korrupte. Gibt es Anzeichen, dass politische Gegner zum Ziel werden?
Reese: Zu Morden an Opponenten ist es bisher kaum gekommen, sie werden eher marginalisiert. Es gibt den Fall eines Kandidaten, der verhaftet wurde und in der Zelle gestorben ist. Ihm sagte man dann Drogennähe nach. Aber es trifft eher die kleinen Fische.
STANDARD: Duterte versucht, sich Russland und China anzunähern. Geht es um ähnliche Politikkonzepte oder eher darum, sich von den USA abzunabeln?
Reese: Beides. Die Annäherung hat sicher das Ziel, neue Partner zu suchen, weil die Philippinen von den USA sehr abhängig sind. Aber natürlich ist es auch bequem, wenn Fragen nach Rechtsstaatlichkeit nicht gestellt werden. Und Duterte bewundert Wladimir Putin, wie er selbst sagt. Aber die wirtschaftliche US-Abhängigkeit ist viel zu groß. Ich kann mir kaum vorstellen, wie es weitergehen könnte, wenn es etwa ein Handelsembargo gäbe.
STANDARD: Das wird sich mit dem 20. Jänner ohnehin erledigt haben
Reese: Donald Trump hat Duterte ja schon angerufen und gesagt, er würde sich das mit dem Drogenkrieg gern genau erklären lassen. Weil er sehen wolle, wie sich das in den USA machen ließe.
Interview: Manuel Escher, 13.1.2017
Dominik Hammann arbeitet als Menschenrechtsbeobachter für das Beobachternetzwerk IPON auf den Philippinen. Niklas Reese ist Sozialwissenschafter und führt das Informationszentrum Philippinenbüro e. V.
Sonntag, 22.1. im ADA: Duterte und die Philippinen
Duterte, eine Blaupause für Trump mit Niklas Reese am Sonntag, 22. Januar im ADA
Den Auftakt macht eine Veranstaltung mit Niklas Reese zu den Philippinen, wo es bereits im April 2016 zur Wahl eines autokratisch auftretenden Rodrigo Duterte kam – trotz oder gerade wegen seiner Gewaltaufrufe und brutaler Ideen die er im Wahlkampf verkündete. Das Phänomen Duterte, in dessen Regierung auch drei maoistische Minister vertreten sind, lässt sich nicht einfach fassen. Sein egomanisches Auftreten wirkt im Nachgang jedoch wie eine Blaupause für den ein halbes Jahr später gewählten Donald Trump. Anders als Trump konnte Duterte jedoch bereits einige seiner Vorhaben realisieren – in Europa sind hauptsächlich extralegale Exekutionen angeblicher «Konsumenten» und «Dealer» von Drogen bekannt geworden. Welchem Zweck Todesschwadrone und überfüllte Knäste dienen, bleibt meist unbeleuchtet.
Am 22.1. wollen wir Ursachen und Folgen der Politik Dutertes etwas genauer betrachten. Die philippinische Gesellschaft hat inzwischen ein dreiviertel Jahr lang Erfahrungen mit einem «neuen Politikkonzept» gemacht. Wir möchten wissen, wie sich die Herrschaft eines egomanen Autokraten auf eine vielfältige Gesellschaft auswirkt, wie es sich anfühlt, in “Duterte-Land” zu leben und ob sich auch für Europa Erfahrungen ableiten lassen, obwohl die philippinische Politik viele Besonderheiten aufweist.
Niklas Reese ist ist Herausgeber des «Handbuch Philippinen» und Soziologe. 2015 promovierte er über das politische Bewusstsein auf den Philippien. Niklas Reese lebte lange in der Stadt Davao, in der Duterte als Bürgermeister eine Art «Probelauf» für seine Präsidentschaft absolvierte, seit zwei Jahren lebt er in Manila.
Politik in der Rechtskurve – Teil 1: Duterte und die Philippinen, mit Niklas Reese.
Sonntag, 22.1.2017, 17:00 Uhr, Café ADA, Wiesenstraße 6, Wuppertal.
Der Eintritt ist frei, Spenden werden gerne entgegengenommen.